Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
Möglichkeiten gibt, auf kluge Weise damit umzugehen. Denn so, wie wir das System der Beschleunigung alle zusammen in Gang gesetzt haben, können wir es auch alle gemeinsam ändern.
I
GEWONNENE UND VERLORENE ZEIT
W enn Babbitt in die Nähe seines Büros gelangte, ging er schneller und schneller und murmelte dabei: »Muss mich sputen.« Um ihn herum sputete sich die ganze Stadt, Eile um der Eile willen. Männer in Autos eilten, einander zu überholen in dem rasenden Verkehr. Männer eilten, um Züge zu erreichen, auf Zügen, die mit Verspätung anlangten, sprangen von den Zügen, galoppierten über die Straßen, stürzten in die Häuser und in die auf und ab schießenden Expressaufzüge. Männer in Speisewirtschaften sputeten sich, ihr Essen hinabzuwürgen, das der Koch in rasender Eile gebraten hatte. Männer in Frisierläden keuchten: »Rasieren Sie mich ein bisschen fix. Bin eilig.« In fiebernder Hast suchten Männer ihre Besucher loszuwerden in Büroräumen, die mit der Aufschrift »Bin heute beschäftigt« oder »Der Herr hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, du kannst alles Nötige in sechs Minuten sagen!« verziert waren. Männer, die im vorletzten Jahr 5 000 und im letzten Jahr 10 000 Dollar verdient hatten, trieben ihre zerrütteten Nerven und ihr erschöpftes Gehirn in toller Hast an, um dieses Jahr 20 000 herauszuschlagen; und die Männer, die schon 20 000 Dollar verdient hatten und gleich hinterher zusammengebrochen waren, hasteten, um Züge zu erreichen und ihre Ferien, eilig von hastenden Ärzten verschrieben, in Hast und Eile zu verbringen.
In unnachahmlicher Weise hat Sinclair Lewis 1922 in seinem Roman Babbitt das gehetzte Leben der modernen Gesellschaft nachgezeichnet. 1 Lewis’ Immobilienmakler George F. Babbitt hat den Drang, Zeit zu sparen, vollständig verinnerlicht und sein ganzes Leben dem Effektivitätsprinzip verschrieben. Nichts geschieht bei ihm spontan; Babbitt hält sich an alle geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des bürgerlichen Lebens – und erhofft doch insgeheim nichts so sehr wie einen Ausbruch aus diesem strengen Raster.
Sinclair Lewis’ provokante Porträts des amerikanischen Bürgertums wirkten wie eine Karikatur der Realität und schockierten die Zeitgenossen. Eine Steigerung der von ihm geschilderten Zustände schien kaum vorstellbar. Und doch wäre selbst einem George F. Babbitt schwindelig geworden, hätte man ihn plötzlich an den Beginn des 21. Jahrhunderts versetzt, in dem die Zeit ein noch viel knapperes Gut geworden ist. Angesichts der Kommunikation mit Lichtgeschwindigkeit, der globalen Just-in-time -Lieferung und der nanosekundengenauen Taktung von Produktionsprozessen erschiene Lewis’ Helden sein Leben der zwanziger Jahre wohl wie ein Relikt aus »guter alter Zeit«.
Musste damals schon alles schnell gehen, so heißt es heute: instantan. Babbitt wäre auf dem Weg zum Büro bereits online und mitten in der Arbeit, die gemütlichen »Speisewirtschaften« hätten längst einem Fast-Food-Imbiss Platz gemacht, und statt zum gemächlichen Zug würde er zum Flugzeug hasten. Auch Babbitts Hör- und Sehgewohnheiten hätten sich zweifellos verändert. Dieselbe Jazzmusik, die ihm in den 1920er Jahren wild und atemlos erschien, würde er heute als entspannende Hintergrundmusik in ruhigen Stunden auflegen. Theaterstücke, die ihn damals schockierten, empfände er nun als langatmig und öde, und die ruhigen Angelurlaube, die er sich zur Entspannung seinerzeit gönnte, hätten wohl einem aufregenden Erlebnisurlaub Platz gemacht. Der Vergleich der Lebenstempi Anfang des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts erinnert damit unwillkürlich an das überspannte Taktmaß in Robert Schumanns 2. Klaviersonate g-moll (opus 22), die mit der Aufforderung »so rasch wie möglich« beginnt – nur um als Nächstes vom Pianisten zu fordern »noch schneller«.
Wie sehr sich das Gefühl der knapper werdenden Zeit ausbreitet, weisen Studien seit Jahrzehnten nach. Schon 1970 sprach der Sozialwissenschaftler Staffan Linder in The Harried Leisure Class (etwa: Die gequälte Klasse der Müßiggänger) von einer allgemeinen »Zeit-Hungersnot«. 2 Und die Zeitbudgetforscher John Robinson und Geoffrey Godbey stellen fest: »Der unerfüllte Hunger nach Zeit führt nicht zum Tod, sondern eher, wie schon die alten Athener Philosophen feststellten, dazu, dass man nie beginnt zu leben.« 3
Dabei ist nichts so verbreitet wie das Bemühen, Zeit zu sparen. Bücher zum Time
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