Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
dem Buch oder der CD die Zeit zum entspannten Lesen oder Hören gleich mitkaufen könnte. Dementsprechend schlachtet die Werbung gnadenlos unser Bedürfnis nach Ruhe aus. »Sie wollen Muße genießen? Mal richtig entspannen und erholen, sich verwöhnen lassen oder sich besinnen?«, hieß es etwa passend zum Spiegel -Titel auf der Internetseite des Nachrichtenmagazins, wo dem erholungssuchenden Leser die »Reise-Tipps von SPIEGEL ONLINE« präsentiert wurden: Ayurveda auf Sri Lanka, Klosterurlaub auf Mallorca oder Planschen im Schwefel-Spa auf der Karibikinsel Dominica. Je exotischer und aufwändiger, so scheint es, desto mehr Muße. Dabei ist das Gegenteil richtig. Eine Fernreise will vorbereitet und finanziert sein, vor Ort gilt es, sich zu akklimatisieren und zurechtzufinden, was unter Umständen nicht unerheblichen Stress für Körper und Psyche bedeutet. Und gerade wenn man anfängt, sich zu entspannen, steht der Rückflug schon bevor.
Statt sich den Stress einer Fernreise zu »gönnen«, käme man der Muße vermutlich näher, wenn man das Geld vier Wochen in eine Köchin und einen Butler investierte und sich zuhause einmal richtig verwöhnen ließe. Doch häufig erwarten wir von den Mußezeiten eben auch gleich ein besonderes Erlebnis – die außergewöhnlich wohlige Entspannung, den rundum gelungenen Urlaub, den ungetrübten Musikgenuss, die harmonische Zeit mit der Familie – und unterliegen so dem dritten Missverständnis: Denn mit diesen Ansprüchen setzen wir ausgerechnet jene Auszeiten, in denen es einmal nichts zu leisten gilt, prompt wieder unter einen Erwartungsdruck, dem sie häufig nicht genügen. Im Wellness-Spa merkt man erst, wie verspannt man ist, im Urlaub regnet es, im Konzert schweifen die Gedanken ständig ab, und am ruhigen Wochenende mit der Familie kommen zunächst einmal lang verdrängte Probleme hoch. Muße lässt sich eben nicht auf Knopfdruck verwirklichen, sie bedarf vor allem einer Sache: ausreichend Zeit. Sonst unterwirft man sie prompt wieder jenem Effizienzdenken, das bereits unseren gesamten Arbeitsalltag regiert.
Allerdings müssen wir uns auch von der Vorstellung lösen, viertes Missverständnis, dass die Verwirklichung der Muße ausschließlich mit der zur Verfügung stehenden Freizeit zu tun habe. Manche Menschen vertrödeln unendliche Stunden ihrer freien Zeit mit Tätigkeiten, die weder zur Erholung noch zum Glück führen; andere bleiben selbst inmitten großer Aktivität entspannt und froh, ja, sie betrachten sogar ihre Arbeit als befriedigende, mußevolle Aktivität und nicht als saure Pflicht.
Die Kunst der Muße hat letztlich also nichts mit der Zahl der freien Stunden zu tun, sondern mit einer Haltung. »Muße«, so drückt es die österreichische Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny aus, »ist die Intensität des Augenblicks, der sich zeitlich zu Stunden oder Tagen ausdehnen kann, um sich auf ein Einziges zu konzentrieren: Eigenzeit.« Und diese »Eigenzeit« kann vieles sein – ein intensives Gespräch ebenso wie Musikgenuss oder ein spannendes Arbeitsprojekt, sie kann spielerisch oder ernsthaft sein, zielorientiert oder suchend, aber sie wird immer charakterisiert durch eine Eigenschaft, sagt Nowotny: »Muße ist die Übereinstimmung zwischen mir und dem, worauf es in meinem Leben ankommt.« 15
4. Opportunitätskosten und das Paradox der Entscheidungsfindung
D ie (Wieder-)Gewinnung der Herrschaft über unsere Zeit ist also einer der Schlüssel, um dem Gefühl der Zeitnot und des ständigen Unter-Druck-seins zu entkommen. Die Kunst der Muße hängt allerdings noch an einer zweiten Grundbedingung, und zwar an unserer Fähigkeit, nicht ständig abzuschweifen, sondern das Glück eines Augenblicks auch wirklich ausschöpfen zu können.
Eine eindrückliche Lehre in dieser Hinsicht erteilte mir einmal ein alter Almwirt im Elsass, der inmitten des französischdeutschen Grenzgebirges eine Hütte betrieb. Nach einer langen Wanderung erschien mir dieser Ort wie eine Oase, in der das Bier ungewöhnlich gut schmeckte und das einfache Essen ein ganz besonderer Genuss war. Abends, als die Tagesausflügler verschwunden waren und nur noch ein paar Übernachtungsgäste auf der Terrasse saßen, kamen wir mit dem wettergegerbten Almwirt ins Gespräch, der viel zu erzählen hatte. Er war ursprünglich Bauer gewesen, begann dann, sich politisch zu engagieren, saß zeitweise als Abgeordneter im Straßburger Europaparlament, bevor er sich schließlich in die Ruhe der Berge
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