Muster - Steffen-Buch
hatte sie morgens immer ein Lächeln auf den Lippen.
Als Mutter zu der Auffassung kam, dass die »Eckenbehandlung«
nicht mehr fruchtete, wählte sie als nächste Stufe die »Spiegelbehand-lung«. Zu Anfang war es eine Form der Bestrafung, die keine sicht-baren Spuren hinterließ. Mutter packte mich einfach, stieß mich mit dem Gesicht gegen den Spiegel und zerrte mein tränennasses Gesicht 21
über das glatte, reflektierende Glas, so dass schmierige Schlieren zu-rückblieben. Dann befahl sie mir, immer wieder zu sagen: »Ich bin ein schlechter Junge! Ich bin ein schlechter Junge!« Anschließend zwang sie mich, vor dem Spiegel stehen zu bleiben, das Gesicht ans Glas zu drücken und hineinzustarren. Die Arme an den Körper gepresst, stand ich wankend da und fürchtete mich vor dem Moment, in dem wieder Werbung im Fernsehen kam. Ich wusste, dass Mutter dann durch den Flur stürmen würde, um zu kontrollieren, ob ich mir immer noch die Nase am Spiegel platt drückte, und mir zu sagen, was für ein unerträgliches Kind ich sei. Wann immer meine Brüder ins Zimmer kamen, während ich so am Spiegel stand, sahen sie mich nur kurz an, zuckten die Achseln und spielten weiter, als sei ich gar nicht vorhanden. Zuerst nahm ich es ihnen übel, aber bald verstand ich, dass sie nur versuchten, ihre eigene Haut zu retten.
Wenn Vater auf der Arbeit war, schrie Mutter oft Zeter und Mordio, während sie meine Brüder und mich zwang, das ganze Haus nach etwas abzusuchen, das sie verlegt hatte. Das Drama begann gewöhnlich am Morgen und dauerte Stunden. Nach einer Weile wurde es ihr zur Gewohnheit, mich in die Garage zu schicken, die im Untergeschoss lag -
wie ein Keller. Sogar dort zitterte ich wie Espenlaub, wenn ich hörte, wie Mutter einen meiner Brüder anbrüllte.
Sie veranstaltete diese Suchaktionen monatelang, und letztendlich war ich immer derjenige, den sie auserkor, alleine weiter nach ihren Habseligkeiten zu suchen. Einmal vergaß ich, nach was ich suchen sollte. Als ich Mutter verschüchtert fragte, um was es sich handelte, gab sie mir eine schallende Ohrfeige. Sie lag zu diesem Zeitpunkt gerade auf der Couch und wandte nicht einmal den Blick von ihrer TV-Show ab. Mir schoss ein Blutschwall aus der Nase, und ich fing an zu weinen.
Mutter grapschte eine Serviette vom Beistelltisch, riss einen Fetzen davon ab und stopfte ihn mir in die Nase. »Du weißt verdammt genau, nach was du suchen sollst!«, schrie sie. »Jetzt geh und finde es!« Ich machte, dass ich wieder in die Garage kam und sorgte dafür, dass ich genügend lärmte, um Mutter davon zu überzeugen, dass ich ihren Befehl in fieberhafter Eile ausführte. Als Mutters Masche »Finde den Gegenstand« zur Regel wurde, begann ich, mir in der Phantasie auszu-malen, dass ich den fehlenden Gegenstand tatsächlich finden würde. Ich stellte mir vor, wie ich mit meiner Trophäe in der Hand die Treppe hinaufmarschieren und Mutter mich mit Umarmungen und Küssen 22
empfangen würde. Doch ich fand Mutters verlegte Habseligkeiten nie und sie ließ mich nie vergessen, dass ich ein hoffnungsloser Versager war.
Schon als kleines Kind erkannte ich, dass Mom sich um hundertachtzig Grad drehte, wenn Dad zu Hause war. Wenn Mom sich hübsch frisierte und schöne Kleider anzog, wirkte sie entspannter. Ich liebte es, wenn Dad frei hatte und zu Hause war. Denn das bedeutete: keine Schläge, keine Spiegelstrafen und keine langen Suchaktionen nach verloren gegangenen Dingen. Dad wurde mein Beschützer. Wann immer er in die Garage ging, um an etwas zu basteln, folgte ich ihm auf den Fersen. Wenn er in seinem Lieblingssessel saß und die Zeitung las, ließ ich mich zu seinen Füßen nieder. An den Abenden machte Vater den Abwasch, wenn wir nach dem Abendessen den Tisch abgeräumt hatten, und ich trocknete ab. Ich wusste, dass mir nichts geschehen würde, solange ich an seiner Seite blieb.
Eines Tages versetzte Vater mir einen fürchterlichen Schock, bevor er zur Arbeit aufbrach. Nachdem er sich von meinen Brüdern Ron und Stan verabschiedet hatte, kniete er sich nieder, packte mich fest an den Schultern und sagte: »Sei ein guter Junge.« Mutter stand hinter ihm, die Arme vor der Brust verschränkt, ein grimmiges Lächeln auf den Lippen. Ich schaute meinem Vater in die Augen und wusste in diesem Augenblick, dass ich ein »schlechter Junge« war. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich wollte, dass er bei mir blieb und mich nie mehr los ließ, aber ehe ich Vater umarmen
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