Muster - Steffen-Buch
konnte, stand er auf, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Nach Vaters Ermahnung schienen sich die Wogen für kurze Zeit zu glätten. Wenn er zu Hause war, spielten meine Brüder und ich bis etwa drei Uhr nachmittags in unserem Zimmer oder draußen. Um diese Zeit schaltete Mutter den Fernseher ein und wir durften uns Zeichentrickfil-me ansehen. Für meine Eltern war ab drei Uhr »Happy Hour«. Vater stellte eine Palette von Flaschen mit hochprozentigem Alkohol und hohe Cocktailgläser auf den Küchentisch. Er schnitt Zitronen und Limonen, tat sie in Schälchen und stellte ein kleines Glas Kirschen daneben. Meine Eltern begannen oft schon am frühen Nachmittag zu trinken und tranken weiter, wenn meine Brüder und ich ins Bett gingen.
Ich erinnere mich daran, wie ich sie beobachtete, als sie in der Küche zur Radiomusik tanzten. Sie tanzten ganz eng und sahen sehr glücklich 23
aus. Ich dachte, dass die schlechten Zeiten vorbei seien. Ich irrte mich.
Die schlechten Zeiten fingen gerade erst an.
An einem Sonntag ein oder zwei Monate später, an dem meine Brüder und ich in unserem Zimmer spielten und Vater arbeiten war, hörten wir Mutter den Flur entlangeilen und schreien. Ron und Stan rannten ins Wohnzimmer, um sich zu verstecken. Ich setzte mich sofort auf meinen Stuhl. Mit erhobenen Fäusten kam Mutter auf mich zu. Je näher sie kam, desto weiter rutschte ich mit dem Stuhl nach hinten.
Bald berührte mein Kopf die Wand. Mutters Augen waren glasig und blutunterlaufen und ihr Atem roch nach Schnaps. Ich schloss die Augen, als die Wucht ihrer Schläge mich von einer Seite zur anderen warf.
Ich versuchte, mir die Hände schützend vors Gesicht zu halten, aber Mutter stieß sie nur weg. Sie schien eine Ewigkeit auf mich einzudre-schen. Schließlich hob ich verstohlen den linken Arm, um mein Gesicht zu schützen. Mutter griff nach meinem Arm, verlor jedoch die Balance und taumelte einen Schritt zurück. Als sie heftig an meinem Arm zog, um ihr Gleichgewicht wieder zu finden, hörte ich etwas knacken und verspürte einen starken Schmerz in Schulter und Arm. Mutters verdat-terter Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie das Geräusch auch gehört hatte, aber sie ließ meinen Arm los, kehrte mir den Rücken und ging weg, als sei nichts geschehen. Ich hielt mir den Arm, während pochende Schmerzen durch ihn hindurchschossen. Ehe ich ihn näher untersuchen konnte, rief mich Mutter zum Abendessen.
Ich sank auf einen Stuhl und versuchte das Fertiggericht, das vor mir stand, zu essen. Als ich mit der linken Hand nach einem Glas Milch greifen wollte, reagierte mein Arm nicht. Meine Finger bewegten sich auf Befehl, aber mein Arm hing leblos herunter. Ich sah Mutter an und versuchte, mit meinen Blicken ihr Mitleid zu erregen. Sie ignorierte mich. Ich wusste, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, aber ich war zu verängstigt und brachte kein Wort über die Lippen. Ich saß einfach nur da und starrte auf mein Essen. Mutter schickte mich schließlich früh ins Bett und befahl mir, im oberen Bett des Etagenbetts zu schlafen.
Dies war ungewöhnlich, weil ich sonst immer unten geschlafen hatte.
Gegen Morgen schlief ich schließlich irgendwann ein. Den linken Arm stützte ich vorsichtig mit dem anderen ab.
Ich hatte noch nicht lange geschlafen, als Mutter mich weckte und mir erklärte, dass ich in der Nacht aus dem Bett gefallen sei. Sie schien zutiefst besorgt über meinen Zustand zu sein, als sie mich ins Kranken-24
haus fuhr. Als sie dem Arzt von meinem Sturz aus dem Etagenbett berichtete, konnte ich daran, wie er mich ansah, erkennen, dass er wusste, dass es kein Unfall gewesen war. Wieder war ich zu verängstigt, um etwas zu sagen. Zu Hause erfand Mutter eine noch dramati-schere Geschichte für Vater. In der neuen Version hatte Mutter versucht, mich aufzufangen, ehe ich auf dem Boden aufschlug. Als ich auf Mutters Schoß saß und zuhörte, wie sie Vater diese Lüge auftischte, wusste ich, dass meine Mom krank war. Doch meine Angst sorgte dafür, dass der Unfall unser Geheimnis blieb. Ich wusste, dass der nächste »Unfall« schlimmer sein würde, wenn ich jemandem erzählte, wie es wirklich gewesen war.
Die Schule war der Himmel auf Erden für mich. Ich war froh, Mutter für eine Weile entkommen zu können. In den Pausen benahm ich mich wie ein Wildfang und sauste auf der Suche nach Abenteuern wie ein Wirbelwind über den Schulhof. Ich fand leicht Freunde und war sehr glücklich, in der Schule
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