Mutproben
Erdkuhlen und hielten ganze Wettkämpfe gegeneinander ab. Ich mit meinen schönen Glasmurmeln, er mit DDR-Murmeln aus Ton. Irgendwann bot er mir dann einen Tausch an: zwei Tonmurmeln gegen eine Glasmurmel, was ich für ein großartiges Geschäft hielt. Zunächst war ich also unheimlich stolz darauf, einen so guten Tausch gemacht zu haben. Aber schon nach kurzer Zeit zeigte sich, dass seine Tonmurmeln auseinanderbrachen, wenn sie nur leicht gegen die Wand kullerten. Er hatte mich also angeschissen, aber das nahm ich sportlich und eigentlich war es mir auch egal.
Ende der Siebzigerjahre starb meine Großmutter, der ich auch meinen Namen Ole zu verdanken habe. »Ole Popp« nannte sie mich liebevoll, was auf Plattdeutsch soviel heißt wie »alte Puppe«. Mir war das nur recht, denn meine anderen Namen, Carl-Friedrich und Arp, waren mir doch eher peinlich, weil sie irgendwie altmodisch klangen und auch etwas zu abgehoben. Mit achtzehn Jahren trug ich Ole offiziell ins Namensregister ein, und seither heiße ich ganz offiziell nun so, meiner Großmutter sei Dank. Die Erinnerungen an meine Großmutter und an diese Zeit sind mir jedenfalls noch heute sehr präsent.
Meine Großeltern väterlicherseits wiederum kannte ich kaum. Sie lebten in Scharbeutz, einem kleinen Ort an der Ostseeküste, kurz hinter Lübeck. Sie waren schon etwas älter und ich war wohl einfach zu jung als dritter Enkel, um ihre Aufmerksamkeit noch besonders auf mich lenken zu können. Mein großer Bruder ist vierzehn Jahre älter als ich, der andere neun, und ich glaube, dass meine beiden Brüder noch ein innigeres Verhältnis zu den Eltern meines Vaters hatten. Aber Kinder hatten sie generell einfach nicht so sehr auf der Rechnung. Ich weiß noch, dass wir manchmal zu Besuch dorthin fuhren, meine Eltern und ich. Im Wohnzimmer meiner Großeltern stand so eine schwere Offizierstruhe mit einem handgeschmiedeten Schloss und aufwendigen Verzierungen. Es dauerte keine zwei Minuten, und schon war ich auf der Truhe deponiert. Da saß ich dann und durfte zuhören, was die Erwachsenen sich zu erzählen hatten. Ich beobachtete meinen Großvater, eine beeindruckende Erscheinung mit donnernder Stimme, der von meinem Vater sehr bewundert wurde. Während des Krieges war er Generalrichter bei der Wehrmacht gewesen, später dann Rechtsanwalt, und wenn er redete, waren alle anderen ruhig. Als ich schon etwas älter war, schenkte er mir einen Kommentar zum Strafgesetzbuch aus den Fünfzigerjahren. Er hatte mein Interesse für die Juristerei bemerkt und entfachte damit vollends meine Leidenschaft. Ich konnte mich später stundenlang ins Strafgesetzbuch einschmökern und fand es so spannend wie Karl May und Sherlock Holmes. Aber dort oben auf der Truhe war ich noch zu klein dafür, ich langweilte mich in Scharbeutz zu Tode und hoffte immer
nur, dass die Besuche schnell wieder vorbei sein würden. Die Offizierstruhe habe ich später geerbt. Sie steht heute in meiner Wohnung im Esszimmer.
Die Beusts waren der aristokratische Teil unserer Familie, und meine Großmutter lebte abseits der Realität in einer Adels-Scheinwelt. Sie war etwas steif in ihrer ganzen Art und pflegte die Attitüden einer Dame aus gutem Hause. Was sie verdrängte, war jedoch, dass die Familie keine Guts- und Herrenhäuser mehr besaß, wie sie das aus ihrer Kindheit kannte, dass also vom großen alten Glanz nicht viel erhalten war. Das lag zum einen an den veränderten Bedingungen; die Zeiten waren andere geworden, und der Adel musste Federn lassen, nachdem der Stand durch die Weimarer Verfassung aufgehoben worden war. Zum anderen aber war es auch mein Großvater selbst, der dazu beitrug, denn er war ein absoluter Lebemann, der gerne trank, sich vergnügte und das Geld der Familie nie zusammenhielt. Bei meinem Vater wirkte sich das später in einer überzogenen Eitelkeit auf äußerliche Dinge aus. Das Geld war knapp in seiner Kindheit, es gab nur selten neue Kleidung und das äußere Erscheinungsbild entsprach kaum den modischen oder aristokratischen Ansprüchen jener Jahre. Das Minderwertigkeitsgefühl, das in meinem Vater dadurch entstanden war, versuchte er später durch einen ausgeprägten Klamottentick zu kompensieren. Unzählige Krawatten, Anzüge und Hemden, die vermutlich für ein ganzes Bataillon gereicht hätten, hingen bei uns in den Kleiderschränken herum. Manchmal machte mein Vater sich auf den Weg zur
Arbeit, doch schon vor der Garage hielt er wieder an, kam zurück und zog sich noch
Weitere Kostenlose Bücher