Mutproben
Doch so wie wir als Partei die absolute Mehrheit nach dem Rauswurf Schills und den Neuwahlen holen
konnten, weil wir das Risiko gewagt hatten, so sind wir leider mit der Schulreform gescheitert. Nur so aber kann man gute Politik betreiben. Nur so lassen sich Akzente setzen, daran glaube ich fest. Mal liegt man mit seiner Einschätzung goldrichtig, und manchmal daneben. Niederlagen gehören dazu.
Doch genau hier liegt das Problem. Generell habe ich das Gefühl, dass die Risikobereitschaft stark nachgelassen hat. Die Menschen vermissen von Politikern klare Bekenntnisse. Und sie haben jedes Recht dazu, diese einzufordern. Zu selten treten wir klar für unsere Positionen ein, aus Angst, uns gegen den Mainstream zu lehnen.
Ich will Beispiele nennen, wo ich eine klare Haltung vermisst habe. Zum einen: Thilo Sarrazin. Ich meine, dass man seinen Thesen deutlich härter hätte gegenübertreten sollen. Das hätte ich mir von meiner eigenen Partei gewünscht, genauso deutlich aber auch von der SPD erwartet. Viele Kollegen hatten das Gefühl, aus Sarrazins Buch spricht Volkes Stimme, und mit Volkes Stimme legt man sich nicht an. Das Buch aber war unseriös, in seinen Thesen unredlich, doch kaum einer hat dagegengehalten. Die Grünen taten es noch am lautesten. Im Grunde aber haben alle durch die Bank weg versucht, dieses unangenehme Thema leerpuffern zu lassen. Öffentlich klang das dann so: Er spricht etwas an, das viele beschäftigt, und wir nehmen das sehr ernst. Eine leere politische Phrase.
Zum anderen vermisse ich seit langem ein klares Bekenntnis zu Europa. Keiner äußert eine Vision, keiner hat den Mut
zu sagen: Verflucht noch mal, Europa hat uns 50 Jahre Frieden gebracht, es hat uns Wohlstand gebracht, nun muss Deutschland auch Opfer bringen. Im Wettbewerb mit China, aber auch in der Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten brauchen wir Europa. Nicht nur aus ökonomischer Sicht. Wir benötigen auch ein ideelles Rückgrat. Wir sollten stolz sein auf unsere europäischen Werte. Und deshalb muss man jetzt sehr klar und deutlich sagen: »Mein Ziel, das sind die Vereinigten Staaten von Europa.« Ein solcher Schwur ist nötig. Im Zuge der Globalisierung muss man neue Positionen beziehen, die vor 20 Jahren vielleicht noch nicht erforderlich waren. Ein emotionales, ein historisches Ziel in dieser Größenordnung muss hier formuliert werden, auch mit dem Risiko, dass 70 Prozent der Menschen das so noch nicht sehen. Mir fehlt die Bereitschaft in der Politik, die Menschen davon tatsächlich überzeugen zu wollen. Mit Rücksicht auf die vermutete öffentliche Meinung wird hier wieder alles sehr verquast ausgedrückt. Bloß kein Risiko eingehen, sich bloß nicht bekennen, es könnte ja die nächste Wahl verloren gehen.
Wir brauchen also wieder mehr Mut und Klarheit in den Debatten. Dabei dürfen wir jedoch nicht die Verantwortung für die eigenen Leute aus dem Blick verlieren. Politik darf kein Jahrmarkt der eigenen Eitelkeit werden, kein Spiel nach dem Motto: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das ist inakzeptabel, denn kein Politiker steht für sich allein. Er ist immer zugleich Repräsentant seiner eigenen Leute. Die Wähler aber goutieren Mut und Ehrlichkeit, davon bin ich überzeugt.
Ich will hier keine klassische Autobiografie schreiben. Und doch werde ich im ersten Kapitel erläutern, wie ich zu dem wurde, der ich heute bin. Und ich möchte der Frage nachgehen, woher mein Drang nach Individualität und Unabhängigkeit stammt.
Im zweiten Teil des Buches stelle ich die wichtigsten Stationen und Entscheidungen dar, die ich in meinem Leben als Politiker vollzogen habe. Dazu gehören die erfolgsgekrönten gleichermaßen wie die weniger ruhmreichen Momente.
Im dritten Teil denke ich an die Zukunft. Denn wir sind mit gewaltigen Umbrüchen konfrontiert, die heute weit über das Politische hinausreichen und direkt ins Mark der Gesellschaft treffen: Wie steht es mit der Integration, was muss eine moderne Bildungspolitik erfüllen und was wird aus Europa? Diese Themen verdienen eine angemessene Seriosität und eine Portion Mut.
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war ich in der Politik tätig und blieb ihr bis zu meinem Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters der Hansestadt Hamburg im Herbst 2010 treu. Ich war vor meinem Eintritt in die CDU schon ein politischer Mensch und bleibe dies auch nach meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik. Dieses Buch ist also keine Bewerbung um ein politisches Amt, dieses Buch ist kein
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