Mutproben
interessierte oder nicht. Wir durften brav die Ohren spitzen. Ob die Leute denn nicht wüssten, wie es in der Weimarer Republik zugegangen sei, das waren doch die Totengräber der Demokratie, höre ich ihn noch immer sagen. Er konnte sich enorm echauffieren über einzelne Äußerungen anderer Politiker und Menschen, die er für nicht qualifiziert hielt. Warum macht Adenauer nicht dies, und wie kommt Strauß denn auf so einen Unsinn. Es war meine erste politische Prägung, die hier am Tisch stattfand. Und vermutlich hat mich mein Elternhaus weit mehr beeinflusst als später die CDU.
Mein Vater war in erster Linie ein Freigeist, und das nehme ich auch für mich in Anspruch. Da wirkte seine Prägung aus dem Adel stark mit hinein: Nimm dich selbst nicht so wichtig und bewundere niemanden; nimm deine Verantwortung wahr und beurteile andere auch nur nach dem, was sie tun, nie nach dem, was sie haben. Für meinen Vater war es deshalb auch eine schmerzhafte und bis zuletzt ungelöste Frage, wie
der Adel im Dritten Reich so versagen konnte. Die Weimarer Republik und die ganzen Nazi-Erfahrungen hatten in ihm einen Horror hinterlassen, vor allem die Angst um die Gefährdung der Demokratie war bei meinem Vater sehr ausgeprägt. Wie sollte es auch anders sein: Der Vater meines Vaters war Generalrichter bei der Wehrmacht gewesen, der Vater meiner Mutter war Jude. Meine Mutter sagte gern, halb im Spaß, halb im Ernst: »Dein Vater ist mit der Demokratie verheiratet und nicht mit mir.« Ganz falsch war das sicher nicht.
Obwohl ich zuvor eher ein Eigenbrötler gewesen war, fand ich in der Schule sehr schnell Anschluss. Die ersten vier Jahre besuchte ich noch die Grundschule bei uns in Ohlstedt, ab der fünften Klasse musste ich auf das zwölf Kilometer entfernte Gymnasium nach Volksdorf gehen. Jeden Morgen radelte ich durch die Walddörfer dorthin und mittags wieder zurück. Und wenn ich am Nachmittag Freunde treffen wollte oder Sportkurse hatte, stieg ich erneut aufs Rad und strampelte los. Später als Bürgermeister musste ich immer etwas grinsen, wenn mir empörte Mütter ihr Leid klagten, dass sich der Schulweg ihrer Kinder wegen einer Straßenumleitung nun von achthundert auf tausend Meter verlängert habe.
Ich war gleich der Hansdampf in allen Gassen. Unser einsames Haus im Wald war plötzlich oft besucht, immer brachte ich irgendwelche Kinder zum Spielen mit nach Hause. Und wenn nicht gerade jemand mit zu mir kam, dann war ich bei irgendwelchen Klassenkameraden eingeladen. Der Grad der Beliebtheit bemaß sich damals daran, wer wie oft auf andere
Geburtstage eingeladen war. Und da war ich nicht selten ganz vorn mit dabei. Wobei ich im Nachhinein nicht recht weiß, ob diese Aufmerksamkeit nun tatsächlich mir galt, oder ob es eher daran lag, dass mein Vater als Bezirksbürgermeister eine regionale Größe war und die Eltern zu den Kindern sagten: Lad den mal ein. Als Kind denkt man darüber nicht nach.
Im Gymnasium wurde ich jedenfalls auf Anhieb Klassensprecher, und ich muss zugeben, dass ich die Aufmerksamkeit der anderen Mitschüler durchaus genoss. Immer mittendrin, unentwegt im Einsatz. Doch die Freude über den Posten währte nicht lange, denn schon nach zwei Monaten wurde ich wieder abgesetzt. Die Aufgabe des Klassensprechers war es, für Ruhe zu sorgen, wenn der Lehrer hereinkam, dass neue Kreide auf dem Pult liegt und die Tafel schön gewischt ist. Aber ich hatte dazu keine Lust, ich war genauso laut wie all die anderen und überhaupt keine ernst zu nehmende Autorität. Doch es war gewissermaßen meine erste politische Erfahrung. Und vielleicht bin ich nachher als Bürgermeister auch deshalb lieber von selbst gegangen, bevor man mich am Ende abgesetzt hätte.
Ich war ein mittelmäßiger Schüler. In der siebten und achten Klasse machte sich das eine Jahr bemerkbar, das mir den anderen gegenüber als Früheingeschulter fehlte. Ich war kindlicher als meine Mitschüler und hatte den einen oder anderen Durchhänger in Latein und besonders in Mathe.
Trotz meiner mittelmäßigen Leistungen ging ich gern zur Schule, gerade auf das Walddörfer Gymnasium. Dieses hatte einen starken Fokus auf alles Künstlerische – Musik, Theater und Literatur. Das Markenzeichen dieses Gymnasiums war
der Freigeist. Gerne präsentierte es sich als etwas Besonderes, es war vielleicht so etwas wie eine staatliche Waldorfschule, unkonventioneller im Vergleich mit all den anderen Schulen, die es damals in Hamburg gab. Unser Jahrgang gehörte
Weitere Kostenlose Bücher