Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
verschieden sind. Unsere gegensätzlichen Ansichten waren schon in der Pubertät eine tägliche Herausforderung für uns beide.
Einer für alle – alle für einen
Unser Familienleben wird Tag für Tag hektischer. Die steigende Nachfrage an PC -Schulungen führt dazu, dass wir uns für einen festen Standort entscheiden müssen. Wir mieten Räume an und tätigen weitere Investitionen. Es soll auch für uns leichter werden, weil wir uns so den ständigen Auf- und Abbau der Computeranlagen am jeweiligen Schulungsort sparen können. Damit steigen aber auch die laufenden Kosten – ich muss noch mehr arbeiten. Mein Mann muss, bedingt durch die existenziell weiterhin wichtige Personalberatungsagentur, oft ins Ausland. Unsere ohnehin schon knapp bemessene Zeit wird noch knapper. Ausflüge mit der Familie und dem Pferd werden weniger, Zeit für Freunde bleibt kaum noch.
Eines Abends, Jens sitzt gerade in einem Flieger nach Kreta, klingelt das Telefon. Ein Dozent, der an diesem Abend einen Kurs für mich halten soll, sagt kurzfristig wegen Krankheit ab. Acht Kursteilnehmer haben sich angemeldet, und falls ich nicht augenblicklich losfahre, stehen sie vor verschlossener Tür. Eile ist geboten. Ich sause zu meinen Eltern in die Wohnung.
»Könnt ihr Lena heute Abend ins Bett bringen?«, frage ich meine Mutter hektisch.
»Was ist denn passiert?« Sie sieht mich fragend an.
Ich erkläre ihr mein Dilemma. Natürlich will sie helfen und verspricht, die Kleine für den Abend zu übernehmen. Eine Generation hilft der anderen, denke ich. Auch wenn es manchmal für alle Beteiligten anstrengend ist, ist es schön, wenn man sich im Notfall aufeinander verlassen kann. Lena ist ein recht temperamentvolles Kind, das immer Aufmerksamkeit sucht. Den Lehrern in der Schule ist auch schon aufgefallen, dass sie nicht still sitzen kann und große Konzentrationsprobleme hat. In vielen Gesprächen haben wir gemeinsam nach der Ursache gesucht. Demnächst werde ich mit ihr einen Psychologen aufsuchen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Meine Eltern helfen trotz ihres Alters, so wie sie es können, im Gegenzug ist es für mich auch nicht immer einfach, sie im Haus zu unterstützen. Gemeinsame Einkaufsfahrten enden oft mit dem Genörgel meines Vaters: »Wieso muss man nur so viel einkaufen?« und dem bissigen Kommentar meiner Mutter: »Als ob du ohne Essen leben könntest.« Trotzdem sind beide Parteien froh über diese Interessengemeinschaft, von denen alle profitieren. Was wäre nur, wenn ich sie nicht hätte?, denke ich oft.
Mit einem schlechten Gewissen, das mein ständiger Begleiter werden soll, fahre ich eiligst zu der Schulung. Unsere Tochter ist wenig begeistert von der Idee, dass ich an diesem Abend nicht zu Hause sein werde. So hinterlasse ich ein quengeliges und weinendes kleines Mädchen. Meine Mutter lächelt tapfer beim Abschied, aber ich weiß, wie schwierig es für sie werden wird. Es ist schrecklich, doch es gibt an diesem Abend keine andere Lösung.
Gegen elf Uhr finde ich Lena schlafend in ihrem Bett wieder, meine Mutter sitzt bei uns im Wohnzimmer. Sie sieht müde aus. Ich bedanke mich überschwänglich bei ihr. Sie entgegnet jedoch nur: »Das ist doch selbstverständlich!«
Ein herzhaftes Gähnen von ihr entlockt uns noch ein kurzes Lachen. Todmüde fallen wir beide in unsere Betten.
»Jens! Martiiiiinaaaa!«, schallt es durch das Treppenhaus.
Verdammt. »Ja!«
Wir sitzen beide im Dachgeschoss, dort haben wir unser Büro eingerichtet. Jens telefoniert gerade mit einem englischsprachigen Kunden. Meine Mutter hört nicht auf zu rufen, und ich springe auf, um hinunterzusprinten. Dabei stolpere ich über die Telefonschnur und reiße das Telefon mitten in der Vertragsverhandlung vom Tisch. Ein Fluch entweicht mir, während ich Jens flehend ansehe.
Hilf mir!, soll das heißen. Er aber schaut demonstrativ in eine andere Richtung. Das Geschäft ist jetzt eindeutig wichtiger für ihn.
»Martiiiiinaaaaaa!« Die Stimme kommt näher. Meine Mutter geht anscheinend die Treppe hoch.
»Scheiße«, entfährt es mir, und ich rette mich aus der misslichen Lage. Schon bin ich an der Tür und halte sie mit weiteren Rufen auf.
»Komme schon«, entgegne ich leise und lege einen Finger an meine Lippen. »Jens telefoniert mit Kreta.«
»Ach so! Das kann ich ja nicht wissen«, erwidert sie leicht beleidigt.
»Nein, Mutti. Natürlich nicht. Aber es wäre besser, wenn du nicht dauernd rufend nach oben laufen würdest«, erkläre ich
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