Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
ihr.
»Ich wollte ja nur fragen, ob einer von euch deinen Vater in zwei Stunden nach Weilheim bringen kann. Er hat dort ein Treffen und will im Dunkeln nicht mehr fahren.« Fragend sieht sie mich an.
Draußen ist dichtes Schneetreiben, und meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Aber wie kann ich jetzt Nein sagen? Sie helfen doch auch immer, wo es geht.
»Klar. Machen wir«, antworte ich.
In Gedanken gehe ich schon die Liste der noch zu erledigenden Aufgaben durch. Schnell das Auto von den Hundehaaren befreien. Der Müll der letzten Wochen muss auch entsorgt werden, und wie sehen eigentlich die Fenster aus? Ich weiß, dass nicht nur mein Vater mitfahren wird, sondern auch zwei andere Herren aus dem Ort. Nach Weilheim fahren sie immer zusammen.
Langsam wendet sich meine Mutter auf der Treppe um und geht wieder hinunter. Vermutlich sitzt mein Vater unbeteiligt im Wohnzimmer. Anstatt selbst bei uns nachzufragen, schiebt er sie vor. Mir soll’s gleich sein.
Zwischenzeitlich hat Jens sein Telefonat beendet und blickt mir amüsiert entgegen. »Was war das denn da gerade?«, frotzelt er.
»Mach jetzt keine Witze!«, warne ich ihn.
Sehr oft habe ich meiner Mutter schon erklärt, dass ihr Geschrei durch das Treppenhaus nicht so angenehm ist. Aber sie vergisst es immer wieder.
Mir liegt eine ungehaltene Bemerkung auf den Lippen. »Fährst du Vater heute Abend in die Stadt?«, frage ich Jens, statt sie zu äußern.
»Selbstverständlich«, antwortet er.
Für Jens ist das Wetter nicht so schlimm. Er nimmt mir das gern ab. Dafür gehe ich gleich nach unten in den Hof und kümmere mich um das Auto. Zwischenzeitlich ist Lena vom Spielen nach Hause gekommen. »Hunger!«, plärrt sie mir schon an der Haustür entgegen.
Ich schinde Zeit: »Zehn Minuten, mein Schatz. Ich muss nur noch kurz das Auto sauber machen. Hilfst du mir?«
»Nöööö! Ich warte lieber«, sagt sie schnell und läuft nach oben in die Wohnung.
Darauf hatte ich natürlich spekuliert und grinse in mich hinein. Hastig mache ich mich an die Arbeit, sodass Jens am Abend die Herrschaften in die Stadt fahren kann.
Mir ist mulmig zumute wegen des heftigen Schneetreibens, als Jens losfährt, und ich bin ziemlich froh, als er spätnachts mit seinem Schwiegervater wieder wohlbehalten zu Hause ankommt.
»Ob das nötig war?«, frage ich ihn leicht ungehalten. »Das hätte man ja mal ausfallen lassen können. Männer!«
Jens sieht das etwas anders. »Ach was. Ist doch alles gut gegangen. Dein Vater hat dich doch letztens auch abends gefahren. Schon vergessen?«
Nein, das hatte ich nicht vergessen. Es ist keine schöne Erinnerung. Es ist noch kein halbes Jahr her, da wurde bei unserem geliebten Hund die Diagnose Lungenkrebs festgestellt. Zwei Wochen später ging es Sugar so schlecht, dass sie kaum noch Luft bekam. Da wir Lena nicht allein lassen konnten, ich aber nicht allein zum Tierarzt fahren wollte, bot mein Vater an, mich dort hinzufahren.
In der Praxis stellte sich dann heraus, dass Sugar eingeschläfert werden musste, sonst würde sie in der Nacht ersticken. Ich war so froh, dass er dabei war, denn ich musste auf dem Nachhauseweg ununterbrochen weinen und hätte niemals selbst fahren können. Immer wieder klopfte er mir zart auf die Schulter, um mich zu trösten. Er selbst hatte auch ganz feuchte Augen. Dieser Hund war uns allen sehr ans Herz gewachsen.
»Ja, du hast schon recht. Aber das war doch ein Notfall«, versuche ich mich zu rechtfertigen.
Mir ist jedoch völlig bewusst, dass mein Vater damals auch nicht nach dem Wetter oder nach der Uhrzeit gefragt hat. Er war einfach da. Also werden wir jetzt auch für ihn da sein.
Weihnachten
Lena liebt ihre Großeltern von ganzem Herzen. Wann immer es ihr danach ist, besucht sie die beiden. Stets erzählt sie von den schönen Momenten mit Opa und Oma. Ein besonderes Ritual ist für sie der Spaziergang an Weihnachten, kurz vor der Bescherung. Gemeinsam mit ihrem Opa bringt sie die von uns im Herbst gesammelten Eicheln und Kastanien in den Wald, um den Tieren ein Weihnachtsgeschenk zu machen. Am Heiligabend, pünktlich zur Dämmerung, stapft sie, fest eingepackt in ihren Schneeanzug, nach unten und klopft an der Wohnungstür ihrer Großeltern.
»Opa, wir gehen Rehe füttern«, ruft sie ihm zu.
Ihre Oma reicht ihnen Mütze und Schal hinterher, und schon verschwinden die beiden in der winterlichen Spätnachmittagsstimmung. Die kleine Hand von Lena liegt fest in Opas Hand, als ob sie ihn nie wieder
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