Mylady Adelshochzeit 01
Sie sah diesen Mann als ihren Feind an, und dennoch hatte sie mit ihm geplaudert, als hätte er die hässlichen Worte vor sechs Jahren nie geäußert. Sechs Jahre waren eine lange Zeit, einen Groll zu hegen, doch was hatte er seit seiner Rückkehr schon getan, um ihr zu zeigen, dass er seinen Ausbruch von damals bereute? Nichts. Er hatte ihren Vater beschuldigt, den verstorbenen Earl um sein Land betrogen zu haben, hatte angedroht, dass er diesen lächerlichen Rechtsstreit fortführen wollte, und hatte sogar auf der Mine herumgeschnüffelt, als gehöre sie ihm. Ihr Vater würde sich im Grab umdrehen.
Papa. Hatte er geahnt, für welchen Wirbel er sorgen würde, als er meinte, „Es ist an der Zeit, dir einen Gatten zu suchen, Charlie“?
Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dieser Gedanke nicht aus einer Laune heraus entsprang. Wahrscheinlich hatte er schon seit geraumer Weile darüber nachgedacht. „Der junge Viscount Temple ist ein Mann aus gutem Hause und laut seinem Vater auf der Suche nach einer Braut.“
„Der Viscount! Er würde mich doch niemals in Betracht ziehen.“
„Im Gegenteil, man hat mir versichert, dass er bereits sein Interesse geäußert hätte, weil er dich seit seiner Rückkehr von der Universität bewundere. Der Earl hat die Absicht, einen Ball zu geben, und wir sind dazu eingeladen. Wenn du deine Karten richtig ausspielst, Liebes, wirst du eines Tages Countess sein.“
In jenen Tagen hätte niemand, der sich glücklich schätzen konnte, eine der goldgeränderten Einladungskarten zu erhalten, einen Ball in Amerleigh Hall versäumt. Ihr Vater hatte sie mit ihrer Tante Harriet losgeschickt, um eine Ballrobe und den nötigen Putz zu kaufen. Unglücklicherweise war die Vorstellung ihrer Tante von der neuesten Mode längst überholt, wie Charlotte erkennen musste, als sie den Ballsaal betrat und die anderen Damen sah. Ihre Tante hatte Charlotte zu einem mit seidenen Rosenknospen überladenen, rosa Spitzenkleid überredet und ihr widerspenstiges Haar zu festen Korkenzieherlocken frisieren lassen, die ihr überhaupt nicht schmeichelten. Sie hatte den Kopf gereckt und vorgegeben, der modische Fauxpas mache ihr nichts aus, aber mit ihren siebzehn Jahren fiel es ihr schwer, diese Haltung zu bewahren. Nachdem sie mit einem pickeligen Jüngling, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, eine Gavotte getanzt hatte, entschuldigte sie sich und verließ den Saal. Sie war in einen dämmrigen Flur geflüchtet, und dort hatte sie diese schrecklichen Worte gehört, die sie nicht vergessen konnte.
Diese Worte hatten ihr Leben überschattet. Aus dem jungen, ungestümen Mädchen, das das Leben auf dem Land genoss und bereit war, sich umwerben zu lassen, sich zu verlieben und sich auf Ehe und Mutterschaft freute, war eine durchsetzungskräftige, entschlossene Geschäftsfrau geworden, die aus Mangel an Zeit keinen gesellschaftlichen Umgang pflegte, ganz besonders nicht mit solchen Personen wie dem Earl of Amerleigh.
Dieser verflixte Mann!
Sie ließ Bonny Boy bei Dobson und betrat das Haus durch eine Seitentür, entschlossen, ihr Zimmer aufzusuchen, ohne einem ihrer Dienstboten zu begegnen. Sie wusste, sie sah verheerend aus. Ihr Haar hatte sich aus den Nadeln gelöst, Schmutz und Blutflecken zierten ihr Reitkleid, und sie fühlte sich nicht in der Lage, Fragen zu beantworten. In ihrem Zimmer ging sie zum Fenster und blickte hinüber in Richtung Amerleigh, das durch den Hügel von Browhill verdeckt wurde. Die Begegnung mit dem Earl ließ sie erneut ihr ganzes Leben infrage stellen.
Rolands neue Garderobe kam am folgenden Nachmittag. Nachdem er sich von Travers das Haar hatte schneiden lassen, zog er ein weißes Hemd an, schlang sich ein elegantes Musselinkrawattentuch um den Hals und schlüpfte in eine hellblaue Weste und einen dunkelblauen Gehrock. Seine biskuitfarbenen Hosen steckten in den neuen Hessenstiefeln. So gewandet, machte er sich auf zum Dower House.
Als er sich dem Salon näherte, hörte er die Stimmen mehrerer Damen. Seine Mutter empfing also Gäste. Da er sich an ihre Bemerkung erinnerte, dass sie schon lange keinen Besuch mehr erhalten hatte, blieb er kurz zufrieden lächelnd stehen, bevor er die Tür öffnete und eintrat.
Vier Augenpaare wandten sich ihm zu. Sie gehörten seiner Mutter, Lady Gilford, Lady Brandon und Mrs. Trent. Er war froh, seine Uniform gegen angemessenere Kleidung gewechselt zu haben, wie es sich für den adeligen Besitzer von Amerleigh Hall geziemte.
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