Myrddin
Er mußte einige Male über Eisrisse springen, die er trotz der Dunkelheit im Sternenschein gut ausmachen konnte. Sein Geweih wog schwerer als sonst. Einmal stürzte er, rutschte auf dem glasigen Eis in den Spalt einer Hartborste, schwamm fast besinnungslos einige Züge, stemmte sich wieder auf die Eisfläche, brach ein und stemmte sich erneut hoch, Merlin vor Augen, plötzlich schon den felsigen Grund der Insel unter seinen Hufen spürend.
So schnell er konnte, eilte er den gerölligen Weg zur Anhöhe. Schwer atmend und mit wunder Kehle bot sich ihm das Bild einer winterlichen Stille, lautlos unter einem unbeschreiblich dunkelblauen Sternenhimmel begraben. Und er sah Merlin, der reglos auf der eisigen Felsplatte lag, seine Glieder von sich gestreckt, Eis in den Haaren und Schnee im Gesicht.
Hörn riß mit seinem Maul die Decken des Höhleneinganges ab, breitete sie über Merlin aus, leckte ihm dann das Gesicht und legte sich schützend, wachend und wärmend neben ihn.
II
Zwei Tage und zwei Nächte wachte der Hirsch über Merlin, bis der Mensch seinen Visionen und seinem Delirium entfliehen konnte. Hörn kannte den Zustand Merlins, wenn er von den Gwyllons heimgesucht worden war, von den geisthaften Wesen aus der Zwischenwelt, die dem in der Einsamkeit lebenden Seher ihr Wissen zukommen ließen. Ihm selbst waren die Gesichter der Gwyllons niemals begegnet und er fürchtete sich vor ihnen. Da sie in Raserei und Wahnsinn treiben könnten, konnte man ihnen auf geheimnisvolle Weise nicht widerstehen.
Merlin, so wußte Hörn, hatte schwer mit den Geistwesen zu kämpfen. Es war immer ein Ringen um das Wissen der Welt und den Fortbestand des eigenen Verstandes. Noch im Coed Celyddon war Merlin manchmal wochenlang in völliger Umnachtung und in traumatischen Depressionen durch den Wald geirrt, verwildert und fast verhungert zum Hart Fell zurückgekommen, hatte schwachsinnig stumm vor sich hingestiert und war dann zusammengebrochen. Hörn hatte ihn jedesmal in die Welt zurückgeholt. Er wärmte, pflegte und schützte Merlins Geist vor zu großem Schaden. Das Sehen und Erkennen der Welt war für Merlin niemals leicht, ebenso wenig das Verstehen seiner eigenen Prophezeiungen.
Diesmal hatte Merlin seine Visionen in vollkommener Verklärtheit herausgebrüllt, sich unruhig auf dem Boden gewälzt, die Decken von sich gerissen, auf Hörn eingeschlagen, war weinend zusammengebrochen und stöhnte entrückt, bevor er wieder vor Qualen schreiend aufsprang und losrennen wollte. Hörn hatte sich ihm in den Weg gestellt und setzte seine ganze Kraft gegen einen in Raserei geratenen Irrsinnigen ein, um ihn nötigenfalls auch mit Gewalt zu beruhigen, ihn wieder gegen die Kälte zuzudecken und auf sein Erwachen zu warten.
Das hohe Alter zeichnete Merlins Gesicht, als er mit flackernden Pupillen unsicher die Augen aufschlug. Es war Nacht. Der Himmel hatte sich bezogen. Das ferne Sternenlicht war von dem gewaltigen Zelt genommen. Merlin blickte sich geschwächt um. Er suchte feste Zeichen einer Welt, die ihm offenbaren sollten, wo er sich befand. Und dann spürte er die wohlige Wärme Hörns in seinem Rücken, der stolz und versteinert hinter ihm lag. Kein Zweifel mehr, wo er war, und der gute Geruch seines Freundes gab ihm die letzte Sicherheit. Hörns Fell war mit Schneekristallen bedeckt, sein Maul und sein Geweih bereift. Wie aus Alabaster gemeißelt lag er – trotzdem jederzeit sprungbereit – hinter Merlin, seine Augen aufmerksam auf ihn gerichtet. Und dennoch war es, als meditiere der Hirsch.
Mit vorsichtiger Scheu spürte er Merlin zu sich kommen, langsam seinen Kopf aufrichten, und fürchtete einen neuen Anfall. Doch Merlin erhob sich, zog die dicke, hartgefrorene Decke enger um seine Schulter, stützte sich auf einen Arm und schaute aus uralten Augen in den mißtrauischen Blick von Hörn.
„Merlin? Bist du es?“ fragte Hörn abwartend.
„Ja … es ist vorbei“, erwiderte der alte Zauberer glücklich. „Mein Mund ist trocken. Ich kann kaum sprechen … und mir ist kalt … endlich wieder kalt. War es furchtbar? Ja, es war sicherlich furchtbar …“
„Es ist immer erschreckend für mich. Lasse mich dir etwas Wasser bringen. Und du bleib liegen …“
„Nein. Ich möchte aufstehen“, wünschte Merlin, stützte sich auf seine Arme, während die Beine versagten und er auf den Felsen zurückfiel.
Hörn erhob sich ruckartig, auch etwas wankend, blickte einen Augenblick fast dankbar auf die See hinaus, atmete tief
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