Myrddin
Alters und Grams jugendlich strahlten. Seine Haut hatte die Farbe der fahlsamt schimmernden Blätter von Silberpappeln. Seine Nase war lang und rund, jedoch nicht breit, sondern eher schmal. Lachfalten zierten die höhlernen Augen und seine Wangen waren über einem scharfen, freundlichen Mund eingefallen.
„Gehe du weiden … und ich werde mich an meine Aufzeichnungen setzen. Wenn du zurück bist, können wir vielleicht einen kleinen Ausritt in dieser herrlichen Nacht machen“, sagte er, strich Hörn über das weiche Maul, kraulte seinen bereiften Bart und schlug ihm auf den Nacken.
Hörn stieß mit seinem Maul gegen Merlins Schulter, drehte sich und verschwand schreitend, sein Geweih wiegend, in der Dunkelheit des schmalen Pfades, hinab auf das Fjordeis.
Merlin sah ihm einen Augenblick nach, schlug die Decken seines Höhleneinganges zurück, schlüpfte in ein warmes Licht und ließ sie wieder vor den Eingang fallen, um die Kälte aus der Höhle zu halten. Eine gemütliche Atmosphäre strahlte in einem großen Raum, den man von außen kleiner vermutet hätte. Der gesamte Wohnraum war schlauchförmig auf einer Breite von etwa sieben und in einer Länge von knapp zwanzig Metern zweimal in sich gewunden. Seine Decke war so hoch, daß sie im Dunkel verschwand. An der linken Höhlenwand stand ein warmes, weiches Schlaflager. Die Unterlage war aus Stroh und die Decken bestanden aus vielen altertümlich gewebten Stoffen, die knitterig zusammengeschlagen auf dem Bett lagen. Der Schlafstätte gegenüber sah man einen mächtigen hölzernen Tisch mit mehreren wertvoll gepolsterten Stühlen. Geschirr und Bestecke steckten in einem Wandbord darüber. Auf dem Tisch lag ein ledergebundenes aufgeschlagenes Buch, das strahlend weiße Papierseiten hatte, beleuchtet von einer Spirituslampe, die von der Decke herabhing.
Flackerndes Licht brannte in der ganzen Höhle, entweder durch von der Decke hängende Schalen oder an der Wand befestigten Kandelaber. Das Licht entstand durch brennenden Alkohol.
Die Wände waren voller Regale mit Büchern, Meßinstrumenten zur Gestirnsbestimmung, Krügen mit Salben und Tinkturen, Samen und urnenartigen Gefäßen mit Aufschriften, deren Runen man nicht mehr kennt. Es waren Gegenstände aus längst erloschenen Kulturen vergessener Zeiten, in den Regalen scheinbar achtlos übereinandergestapelt.
Im hinteren Teil der Höhle konnte man Merlins Laboratorium sehen, mit einem großen Destillierkolben und zahlreichen miteinander verästelten Flaschen, Röhrchen, Auffanggläsern und Schalen. Es standen Reagenzien in großen Ständern auf dem Boden und hunderte von Kräuterbündeln hingen von der Decke herab.
In den Regalen standen drei- und vierreihig unzählige gut beschriftete Ton- und Glasgefäße. Auf zwei großen Arbeitstischen, die er sich dürftig zusammengezimmert hatte, lagen aufgeschlagene Bücher und eine Vielzahl loser beschriebener Notizblätter. Alles schien unsortiert und völlig willkürlich, den Launen einen Wahnsinnigen gehorchend.
Die losen Blätter waren von gewichtigen Steinmörsern oder enormen Tonschalen beschwert. Abgelegte Bücher und selbstskizzierte Unterlagen türmten sich auf dem Boden. Dahinter, in der äußersten Ecke, stand ein herrlich geschwungener Eschenstab, der mit seinem Knauf an das Gehörn der Mufflons erinnerte. An ihm hingen zwei Lederbeutelchen, von denen der eine gefüllt und der andere leer zu sein schien.
Einerseits roch es streng nach Alkohol, andererseits nach einem Kräuter- und Pflanzenbazar. Der Duft von Heu und Blumen lag in der Luft. Alles beinhaltete den Widerspruch und die Unwirklichkeit des Ortes, an den sich Merlin zurückgezogen hatte.
Verzweifelt setzte er sich an seinen Tisch. Das Licht der Lampe züngelte gespenstisch über sein Gesicht. Er stützte seinen Kopf in die Hände, als wolle er seinen Kummer in ihnen verbergen. Das noch aufgeschlagene Buch lag vor ihm. Lustlos nahm er es, blätterte die letzten handgeschriebenen Seiten zurück, doch das Geschriebene konnte seine Aufmerksamkeit nicht binden.
„Ihr kommt und geht, wie ihr wollt. Doch wißt ihr, was es heißt, hier leben zu müssen? Im Norden … in den Nordlanden …?“ murmelte er vor sich hin und schlug das Buch zu. Der Einband war mit wertvollen keltischen Ornamenten verziert. Gedankenversunken murmelte er weiter: „… lacrimosa dies illa qua resurget ex favilla indicandus homo reus … Ja, jener tränenreiche Tag, da aus der Asche aufersteht der angeklagte, zu richtende
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