Mythor - 074 - Das Fest der Masken
Tage, nicht einen halben Mond dauern, bis die Knospe sich öffnete. So zumindest schätzte Mythor, der die Größe der Knospe mit der gesamten Pflanze verglich.
„Wir werden es auf jeden Fall erleben“, freute sich Noraele. „Es ist schön eine blühende Lichtblume! Herrlich!“
„Lichtblume hin, Blüte her“, sagte Mythor leise. „Mich dünkt, wir müssen gen Süden. Wir dürfen keine kostbare Zeit vertrödeln, indem wir einer Wasserblume nachschauen. Wir müssen nach Hanquon.“
Noraele fuhr herum, und ihre Augen blitzten zornig auf. „Du… du Mann!“ schrie sie ihn an. „Du unromantisches Geschöpf! Du…“
Sie stockte jäh, schien jetzt erst zu begreifen, was er noch gesagt hatte. Ihre Augen weiteten sich.
Was ist denn jetzt schon wieder los? fragte Mythor. Und dann war es an ihm, Mund und Augen erstaunt aufzureißen.
„Die Lumenia“, sagte Noraele langsam und sah ihn an wie ein kleines Kind, vorwurfsvoll, weil er es nicht gewußt hatte. „Die Lumenia ist die Schwimmende Stadt Hanquon!“
*
Die Überraschung hätte nicht perfekter sein können. Sprachlos sah Mythor die Hexe an. Scida lächelte fein. Gerrek hustete; er hatte sich verschluckt. Kalisse, die Amazonenführerin, stieß Mythor mit einer Faust an. „He, Honga“, rief sie. „Was hältst du davon? Wie wäre es, wenn wir es uns heute abend auf einem Blatt gemütlich machen?“
Mythor klappte den Mund wieder zu. „Mit dir bestimmt nicht, Ka!“
Kalisse schluckte. „Ka hast du mich genannt?“
„Er hat beschlossen“, sagte Gerrek, der sich von seinem Hustenanfall wieder erholt hatte, „von jetzt an bewußter zu leben. Dazu gehört, daß er überflüssige Anstrengungen meidet, wie deinen Namen in voller Länge auszusprechen.“
„Halte den Mund“, sagte Mythor.
Kalisse hatte sowohl an Mythors wie an Gerreks Worten etwas zu kauen. Mythor schmunzelte leicht. Allmählich ging er dazu über, der Amazone den Wind aus den Segeln zu nehmen und sie zu verblüffen.
„Das also ist Hanquon“, sagte er und stützte sich auf die Reling.
„Fall nicht ins Wasser“, flüsterte Gerrek hinter ihm laut. „Denke an die hungrigen Fische…“
„Ich denke an etwas ganz anderes“, sagte Mythor. „An hungrige Blumen. Fleischfressende, vorzugsweise.“
„Die Lumenia ist harmlos“, sagte Noraele. „Sonst würde sie nicht seit so langer Zeit bewohnt.“
Mythor dachte an Zambe oder Ambe. In ihrer Erzählung tauchte auch die Schwimmende Stadt Hanquon auf. Damals war sie um die Nachbarinsel Naudron gekreist, auf der Ambe geboren worden war. Damals war Hanquon von Gesetzlosen bewohnt gewesen. Burg Tarlik, Ambes Geburtsort, war überfallen worden, Ambes Mutter fand den Tod…
Aber jetzt schien es keine Gesetzlosen mehr in der Schwimmenden Stadt zu geben, sonst wäre sie nicht auserkoren worden, als Reisemittel zu dienen. Vor allem hätte Zambe nicht ausgerechnet auf Hanquon hingewiesen…
„Die Bewohner Hanquons“, fragte er dennoch. „Was tun sie?“
„Sie handeln“, sagte Noraele, wieder etwas freundlicher. „Sie werden denken, daß wir etwas kaufen oder verkaufen wollen, und werden deshalb überrascht sein.“
„Schwerlich überraschter als ich“, murmelte Mythor. Die Begegnung mit Gondaha hatte ihn geprägt; er hatte alle Schwimmenden Städte für langsam wachsende Schwammschollen gehalten. Diese herrliche Riesenblume… sie war phantastisch. Und sie war schön.
Aber zeigte sich nicht auch das Böse zuweilen in freundlicher Gestalt?
„Dort, die Lagune“, sagte Scida. Die Barke hielt direkt darauf zu. Die untersten, größten Blätter, die das Wasser berührten wie das Ufer einer Insel, bildeten hier und da Buchten, in denen Ableger der Blume schwammen. Vielleicht so etwas wie Beiboote? überlegte Mythor. Auf jeden Fall machte die Lagune den Eindruck eines Hafens. Dort begannen sich auch Bewohnerinnen der Schwimmenden Stadt einzufinden. Offenbar wollten sie die Ankömmlinge begrüßen. Auf den ersten Blick konnte Mythor keine Waffen erkennen.
„Dort werden wir anlegen“, erklärte Noraele.
Gerrek hustete wieder und blies seinen Atem – zu aller Erleichterung ohne Feuer – durch Noraeies Frisur. „Hoffentlich“, sagte er, „laufen wir nicht genau in Niezens Häscherinnen Arme. Na, war das nicht poetisch ausgedrückt?“
„Mag sein“, sagte Mythor leise. Er war sicher, daß Zaems Grenzhexe Niez noch immer Jagd auf sie machte, und Hanquon bewegte sich bestimmt nicht erst seit den letzten zehn Stunden entlang der
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