Mythos Ueberfremdung
dann hätte ich mit großer Unruhe beobachtet, wie die Bürgersteige der Holloway Road sich allmählich mit armen, seltsam gekleideten Männern und mit Frauen bevölkerten, deren Kopftücher ihr Gesicht verbargen. Ihre Familien hielten sich von der einhei mischen Bevölkerung fern, klammerten sich an religiöse und politische Überzeugungen, die nicht zur herrschenden Mehrheitskultur passten, bewahrten Gebräuche und Traditionen, die Jahrhunderte hinter der Jetztzeit zurückge blieben zu sein schienen, vermehrten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit und nutzten mein Stadtviertel als Stützpunkt für die Planung einer Serie von Terroranschlägen, durch die Ende der 1880er-Jahre mehr Menschen ums Leben kamen und größere politische Unruhen entstanden als durch die Anschläge der Dschihadisten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Berichte der Regierung und Buchbestseller jener Zeit vertraten die Ansicht, diese Leute seien unmöglich in die Mehrheitsbevölkerung zu integrieren und würden zu einer wachsenden Bedrohung.
Doch genau diese Einwanderer irisch-katholischer Herkunft waren innerhalb von weniger als zwei Generationen ins kulturelle Leben meines Viertels eingegliedert worden. Ihre besonderen Eigenschaften zeigen sich in ihren Kirchen wie in ihren Pubs, und dennoch gelten sie heute eher als Bereicherung denn als Bedrohung. Wir haben vergessen, wie beunruhigend die Wellen römisch-katholischer und jüdi scher Einwanderer aus den Randgebieten Europas noch vor wenigen Jahrzehnten auf die Bewohner Nordamerikas und West- und Mitteleuropas wirkten. Ihre Herkunftsländer schienen weniger demokratisch und in wirtschaftlicher Hinsicht unfreier zu sein und sich eher dem religiös geprägten Recht und dem politischen Extremismus zuzuneigen. Unter den (Vor-)Denkern quer durch das politische Spektrum war es bis Anfang der 1950er-Jahre durchaus gang und gäbe zu erklären, katholische Einwanderer ließen sich durch Glaubensdiktate zur Befürwortung von Faschismus, Gewalt und religiösem Extremismus bewegen (denn so sah es in ihren Herkunftsländern zumeist aus, und es war das offenkundige Schicksal eines großen Teils ihrer Diaspora), deshalb könn ten sie nicht in nicht katholische Strukturen eingegliedert werden. Ähnliche Ansichten über aschkenasisch-jüdische Einwanderer aus Osteuropa galten in manchen Kreisen noch bis zum Zweiten Weltkrieg als vernünftig.
Die meisten Menschen hatten allerdings bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ihre früheren Ängste im Umgang mit religiösen Minderheiten vergessen. Wir erlebten eine ver gleichsweise tolerante Zeit, als die religiös motivierten Ängste vor der Masseneinwanderung von der ideologisch bedingten Furcht, die mit dem Kalten Krieg einherging, abgelöst wurden. Katholiken und Juden wurden in der Vorstellungswelt der herrschenden Meinung nicht mehr mit Gewalt und kul tureller Überfremdung verbunden, sondern als Freunde, Nachbarn, Kollegen und, in einigen Fällen, als führende Politiker geachtet.
Und dann, im Verlauf des Jahrzehnts nach den Anschlägen vom 11. September 2001, entwickelte sich eine scheinbar neue Auseinandersetzung, zunächst in den entlegenen Winkeln des Internets und den Äußerungen der extremen Rechten und dann immer öfter auf Schauplätzen, die dem Mainstream und dem Massenmarkt zuzuordnen waren. Die Auseinandersetzung begann mit einigen beunruhigenden Anekdoten, die uns in unseren Verdachtsmomenten gegen über diesen Kopftuch tragenden neuen Nachbarn bestärkten. Durch einige demografische und statistische Behauptungen und etwas Theologie entwickelte sie sich zu schwelendem Misstrauen weiter und gipfelte schließlich in einer brisanten Schlussfolgerung zum Schicksal westlicher Gesellschaften. Diese Auseinandersetzung wurde zum Thema Dutzender Bestseller und zahlloser Zeitungskommentare, Blog-Postings, YouTube-Videos, Parteiprogramme und Wahlkampfreden, und mittlerweile gehört sie für viele Menschen zum Alltagsbestand ihres politischen Denkens.
Und das funktioniert so: Diese muslimischen Einwanderer und ihre Kinder und Enkelkinder unterscheiden sich von früheren Einwanderergruppen. Sie vermehren sich unge wöhnlich schnell, mit Geburtenraten, die weit über den in den erschöpften westlichen Ländern üblichen Zahlen liegen. Schon bald, vielleicht schon Mitte des 21. Jahrhunderts, werden die Muslime in den Ländern Europas und den Städten Nordamerikas zur Mehrheit werden. Das stellt eine Gefahr dar, weil sie, anders als frühere
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