Mythos Ueberfremdung
in den Monaten nach den Anschlägen weiter. Er veröffentlichte 2012 ein schmales Büchlein, in dem er die Reaktion der »linkslastigen Kulturelite« und der internationalen Medien auf die Anschläge scharf kritisierte und beide Zielgruppen seiner Kritik als »Apologeten des radikalen Islam« bezeichnete. Das Buch trägt bezeichnenderweise den Titel The New Quislings, nach Vidkun Quisling (1887–1945), dem Anführer der norwegischen Nazi-Kollaborateure. Darin behauptet Bawer explizit, dass Menschen, die eine Einwanderung aus Gebieten mit muslimischer Mehrheit zulassen, sich ähnlich verhalten würden wie diejenigen Menschen, die es zuließen, dass Hitler ihr Land besetzte. Die Regierung und die Medien sind, in Bawers Argumentation, Verräter der Kategorie A und B.
Die Mutter Eurabiens
Versucht man herauszufinden, wer oder was ansonsten vernünftige Menschen wie Bawer veranlasst haben könnte, sich in wutschnaubende Extremisten zu verwandeln, die sich gegen die muslimische Flut stemmen, stößt man immer wieder auf dieselbe kleine alte Frau. Sie ist die großmütterliche Inspirationsquelle von Autoren und Aktivisten, die Erfinderin des Wortes »Eurabien«, sie prägte das beliebte, von zor nigen Bloggern verwendete Schmähwort dhimmitude und ist die in weiten Kreisen anerkannte Matriarchin der Bewegung. Nahezu jedes seit dem 11. September verfasste Buch über die »muslimische Flut« hat sich bei den Schriften von Gisèle Littman bedient, einer autodidaktisch gebildeten, in Ägypten geborenen Autorin schweizerisch-englischer Herkunft, die unter dem Künstlernamen Bat Ye’or (hebräisch für »Tochter des Nils«) publiziert.
Das berühmteste Buch von Bat Ye’or – das Werk, dessen Titel ein neues Kurzwort in den aktiven Sprachgebrauch einführte und letztlich auf eine ganze Bewegung wie ein Katalysator wirkte – heißt Eurabia: The Euro-Arab Axis, erschien im Jahr 2005 und entwickelte sich in den Jahren nach den Anschlägen vom 11. September zum Überraschungserfolg. Konservative und populäre Historiker wie Niall Ferguson (der es als »prophetisch« bezeichnete) und Sir Martin Gilbert priesen es (Letzterer sagte, es helfe, den Nachweis zu führen, dass »die europäische Idee von der islamischen Feindseligkeit gegenüber der Ethik und den Werten Europas« 3 untergraben werde). Man könnte deshalb zu der Annahme neigen, dass dieses Buch ein glaubwürdiges Plädoyer für die islamischen Ambitionen in Europa bietet. Das vermeintliche düstere Herzstück des Buches ist allerdings nichts, was islamischer oder arabischer Herkunft wäre, sondern eher ein obskures, in Brüssel angesiedeltes Komitee, das sich »Euro-Arab Dialogue« (Europäisch-Arabischer Dialog) nennt.
Der Europäisch-Arabische Dialog war in der wirklichen Welt ein von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorläuferin der Europäischen Union, im Jahr 1973 ins Leben gerufener Gesprächskreis, der im Gefolge des Jom-Kippur-Krieges und des von den OPEC-Staaten verhängten Erdölboykotts die diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten verbessern sollte. Die ursprünglichen Ziele – den Nahost-Friedensprozess zu unterstützen und die Handelsbeziehungen im Mittelmeerraum zu verbessern – wurden nicht erreicht, was vor allem daran lag, dass den Europäern ein ökonomisches Forum vorschwebte, während die Araber politische Ziele verfolgten. 4 Bereits im Jahr 1979, nach nur vier Zusammenkünften, wurde der Gesprächskreis ausgesetzt. Zwei Versuche zu seiner Wiederbelebung in den Jahren 1990 und 2008 wurden allgemein als Fehlschläge empfunden. Das Gremium hatte niemals irgendeine Art von politischer Macht und übt keinerlei politischen Einfluss aus. Es wurde so einhellig als unbedeutend empfunden, dass es von zwei späteren Versuchen, die Beziehungen zwischen Europa und seinen Nachbarn im Nahen Osten und in Nordafrika zu verbessern, überlagert wurde: vom Barcelona-Prozess der EU (1995) und von der vom damaligen französischen Präsidenten Sarkozy im Jahr 2008 angeregten Union für den Mittelmeerraum. 1
In Gisèle Littmans Vorstellungswelt setzen dieses verschlafene Komitee und seine Nachfolgeeinrichtungen jedoch eine islamische Übernahme des gesamten europäi schen Kontinents ins Werk. Der Europäisch-Arabische Dialog, schreibt sie in Eurabia, »war die Vorhut zur Einleitung einer Konver genz zwischen Europa und den islamischen Staaten Nord afrikas und des Nahen Ostens […], einer neuen Einheit – mit politischen, wirtschaftlichen,
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