Mythos Ueberfremdung
Gruppe von Autoren und führenden Politikern, die es besser hätten wissen sollen, machte sich im Lauf dieses paranoiden Jahrzehnts ein Sammelsurium von randständigem Gedankengut, das auf Missdeutungen und Unwahrheiten beruhte, zu eigen.
Der empörte Gemäßigte
Man nehme zum Beispiel den amerikanischen Autor Bruce Bawer, eine der in Breiviks Manifest häufiger zitierten Quellen. Der Massenmörder lobt Bawers Bücher als wichtige Anregungen. Bawer, alles andere als ein eingefleischter Rassist oder sektiererischer Politiker, war jahrzehntelang als begabter Essayist bekannt, der über Lyrik, Prosa und Filme schrieb. Seine scharfsinnigen Texte über John Fowles’ Romane oder David Lynchs Drehbücher erschienen regelmäßig in konservativen Mainstream-Zeitschriften wie The New Criterion und The American Spectator. Sein erstes bedeutendes Buch, A Place at the Table: The Gay Individual in American Society, trat für die Rechte der Homosexuellen und die gleichge schlechtliche Ehe ein und orientierte sich in seiner Argumentation an der politischen Mitte. Sein zweites Buch, Stealing Jesus: How Fundamentalism Betrays Christianity, war die Attacke eines gemäßigten homosexuellen Christen auf evangelikale Exzesse, mit der er den Standpunkt vertrat, nicht der wütende Extremismus der evangelikalen US-Fernsehprediger, sondern sein nicht fundamentalistischer Glaube, der einem Mittelweg folge, sei das »wahre Christentum«. 2
Bawer war 1999 nach Amsterdam umgezogen (und lebte zum Zeitpunkt von Breiviks Mordtaten in Oslo). Nach den Anschlägen am 11. September 2001 veränderte sich seine Grundhaltung. Nach Bawers eigener Darstellung war er – ein homosexueller, in Amsterdam lebender Mann – von den homophoben und antiliberalen Stimmen der extremeren muslimischen Geistlichen nach den Anschlägen in New York und Washington nachhaltig schockiert. In While Europe Slept: How Radical Islam is Destroying the West From Within und anderen Büchern beschrieb er wiederholt und in übertriebener Manier den extremistischen Randbereich des Islam als dessen wahre (und im Allgemeinen einzige) Erscheinungsform. Seine Bücher wurden in den Vereinigten Staaten gut aufgenommen, in Mainstream-Blättern wie dem Wall Street Journal auf der Kommentarseite zitiert und gelobt und fanden auch beim Fernsehsender Fox News Erwähnung. Im Schlusskapitel von While Europe Slept vergleicht er unter der Überschrift »Europe’s Weimar Moment« das heutige Europa mit Deutschland während Hitlers politischem Aufstieg. Die Muslime übernehmen hierbei die Rolle der Nationalsozia listen, und die unvermeidliche Schlussfolgerung lautet: »Man kann sich kaum vorstellen, dass Amerikaner viel zur Rettung Europas vor seinem gegenwärtigen Schicksal tun könnten, wenn es nicht einen weiteren D-Day gibt.« In einem Blog vom Januar 2007 spitzte Bawer diese Denkrichtung mit Worten, die zu seinem berühmtesten Zitat werden sollten, weiter zu: »Für die politisch Verantwortlichen in Europa gibt es einen eindeutigen Weg aus diesem Albtraum« der muslimisch-extremistischen Hegemonie, schrieb er. »Sie haben Armeen. Sie haben Polizisten. Sie haben Gefängnisse.«
Bawer war empört über Breiviks Anschläge, aber nicht nur weil sie eine groteske Gräueltat waren. Die Morde hatten seiner Ansicht nach auch noch Schande über eine wich tige Bewegung gebracht. Im Wall Street Journal schrieb Bawer zwei Tage nach den Morden: »Als bekannt wurde, dass diese Terrorakte das Werk eines gebürtigen Norwegers waren, der glaubte, er führe damit einen Schlag gegen den heiligen Krieg und seine Unterstützer, war mir sofort klar, dass diese Gewalttat einem dringenden Anliegen einen schweren Schlag versetzen wird.« Aus dem norwegischen See wurden noch Leichen geborgen, als Bawer die Gelegenheit nutzte, um den im 2083 -Manifest vorgetragenen Argumenten beizupflichten: »Die erste Hälfte, in der [Breivik] die kulturelle Elite Europas anklagt, weil sie es zulässt, dass der Islam in Europa Wurzeln schlägt, macht deutlich, dass er hochintelligent und sowohl in europäischer Geschichte wie auch in moderner Ideengeschichte sehr belesen ist«, schrieb er und fuhr fort: »Es besteht Grund zu tiefer Besorgnis wegen all dieser Dinge und außerdem zu dem Wunsch, dass sich die Regierungschefs ihrer energisch annehmen mögen.« Breivik empfinde »eine berechtigte Sorge wegen ernsthafter Probleme«, fuhr Bawer fort, auch wenn seine Lösung »unaussprechlich böse« sei.
Bawers Haltung verhärtete sich
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