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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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verrückten Bild nicht stimmte, sondern warum sich unsere Augen solche Streiche spielen ließen.
    Der blonde Junge schaute zu den Wolken, die sich bedrohlich am Horizont ballten. D’Albret folgte seinem Blick mit den Augen. Was würde der Junge in den luftigen Gebilden sehen? Er selbst erkannte einen grauen Fisch mit fünf kurzen Beinen und einem spitzen Hut, der sich langsam in einen Vogel mit gerecktem Schnabel verwandelte.
    Der Anblick erinnerte ihn an sein letztes Gespräch mit Brea MacLoughlin. Sie hatten in der Mittagssonne auf der Plaza de Armas von Yurimaguas gesessen, den jugendlichen Schuhputzern viel zu viel Geld gezahlt, um sie loszuwerden, und – wieder einmal – diskutiert.
    Der Mensch, hatte MacLoughlin behauptet, tendierte dazu, falsche Zusammenhänge herzustellen: Wenn man es nachts im Gebüsch rascheln hörte, dann konnte das der Wind sein – oder ein Tiger. Wenn man im Gebüsch Strukturen erkannte, die vage die Gestalt eines Lebewesens in die Dunkelheit zeichneten, dann konnten das Äste sein – oder ein Tiger. Für unsere Vorfahren war es vermutlich ein großer Überlebensvorteil gewesen, vom Schlimmsten auszugehen. Wenn sie sich beim Wind und den Ästen irrten, überlebten sie. Wenn sie sich beim Tiger irrten, waren sie tot. Deshalb hatte sich beim Menschen eine Fähigkeit entwickelt, Gestalten, Muster und Zusammenhänge zu erkennen, und diese Fähigkeit war so groß, dass sie häufig über das Ziel hinausschoss. Wir hatten nun sogar Probleme, Sinneseindrücke nicht auf diese Weise zu interpretieren. Deshalb sahen wir Fische in den Wolken und das Gesicht Jesu in einem verbrannten Toastbrot. Unser Gehirn suchte ständig nach Ordnung, nach Regelmäßigkeiten, aber Zufall konnte es nicht direkt wahrnehmen. Zufall blieb übrig, wenn keine Chance mehr bestand, einen schönen, aber fiktiven Zusammenhang herzustellen.
    Außerdem, hatte die Journalistin gesagt, begriffen schon Säuglinge, dass lebendige Dinge im Gegensatz zu unbelebten Gegenständen offenbar Ziele verfolgten. Wie der Mensch auch. Und jeder nahm sich selbst als einen substanzlosen Geist wahr, der einen physischen Körper kontrollierte. Der Eindruck führte zu der Vorstellung, der Geist könnte sich vom Leib lösen und sogargkeen und nach dessen Tod weiter existieren. Und die Idee von Geistern führte dazu, dass unsere Ahnen hinter dem sonst unerklärlichen Donner nicht etwas, sondern jemanden vermutet hatten, einen planenden Geist oder Gott: Zeus oder Thor. Die Umwelt unserer Ahnen war deshalb mit beseelten Wesen gefüllt worden, mit denen sich alle diese verwirrenden Phänomene um sie herum erklären ließen. Und alles diente einem bestimmten Zweck. Dieses magische Denken war bis heute ein Teil der menschlichen Eigenschaften.
    D’Albret hatte selbst beobachtet, dass Nicolas und die anderen Kinder genauso dachten. Die Sonne schien, damit wir es warm hatten. Es regnete, damit die Pflanzen wachsen konnten. Wenn er ehrlich war, steckte dieses kindliche Denken auch in Erwachsenen wie ihm. Die Erde hatte ein Schöpfer gemacht, damit die Menschen einen Platz im Universum hatten. Und unser Leben musste einen Sinn haben, sonst wären wir doch gar nicht da. Dabei wüssten wir doch längst, dass der Mensch in der teilnahmslosen Unermesslichkeit des Universums allein war, aus dem er zufällig hervortrat, hatte MacLoughlin den Biologen Jacques Monod zitiert. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht stand nirgendwo geschrieben. Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnahm, dann musste der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er wusste nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hatte, das für seine Musik taub war und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen. Was für eine trostlose Welt sie da den Menschen anbot, hatte d’Albret ihr entgegengehalten. Und MacLoughlin hatte ihn gefragt, aus welchem Angebot von Welten sie denn schöpfen sollte, um eine schönere anbieten zu können.
    War er, d’Albret, tatsächlich ein Opfer seiner Sehnsucht nach einer Welt, in der die Menschen und überhaupt alle Lebewesen nicht zufällig verletzt und getötet wurden, sondern wo alles einen Sinn hatte?
    Aber wir konnten nichts wirklich wissen. Niemand kannte die Wahrheit.
    Niemand. Niemand!
    „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe“, hatte Paulus gesagt. „Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ D’Albret

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