Mythos
1. Entrada
Mittwoch, 3. Juni, Kismayoo, Somalia
Brea MacLoughlin kurbelte das Seitenfenster der Beifahrertür herunter. Warme Luft strömte in das Auto. Es roch nach Holzfeuer.
Ihr somalischer Fahrer Da’ar Ahmed rammte den dritten Gang rein und gab Gas. Hinter dem Wagen stieg eine rote Staubfahne von der Straße in den klaren, blauen Himmel hinauf und blieb dort hängen.
Sie fuhren durch eine zerrissene Stadt in einem zerrissenen Land. Es war, als sei der Albtraum vom Krieg aller gegen alle wahr geworden.
Den Häusern am Rand der staubigen Straße sah man das nicht gleich an. Eine kleine Hütte stand neben der anderen. Blaue, rote, weiße Wellblechdächer, dazwischen Akazien und Dornbüsche, bunte Tupfer auf dem Hintergrund des rotgelben Lehmbodens.
Doch die Menschen hier wurden von Angst und der Gefahr des gewaltsamen Todes beherrscht. Seit MacLoughlin sich im Land aufhielt, musste sie immer wieder daran denken, wie der Philosoph Hobbes vor 350 Jahren das Leben vor der Zivilisation beschrieben hatte: einsam, arm, elend, nicht besser als das eines Tieres, und kurz.
MacLoughlin zog die Bänder des schwarzen Kopftuches in ihrem Nacken zusammen und zupfte es so zurecht, dass es ihre roten Haare und ihr blasses Gesicht bis auf einen schmalen Schlitz vor den Augen vollständig bedeckte. Unter dem ebenfalls schwarzen Überwurf, der ihr von den Schultern bis auf die Füße fiel, würde niemand mehr die Irin erkennen. Sie schaute in den kleinen Spiegel auf der Innenseite der Sonnenblende. Die Islamisten könnten ihr nicht vorwerfen, dass sie gegen die Vorschrift verstieß, das Haus nur im Jalaabiib, dem Ganzkörperschleier, zu verlassen. Allerdings würden sie vermutlich genug anderes finden, das sie ihr vorwerfen könnten. Wenn sie sie in die Finger bekamen.
Der Gu-Regen, den der Monsun mitgebracht hatte, hatte das fruchtbare Land aufblühen lassen. Inzwischen war die Trockenheit zurück. Und der menschliche Fleiß hatte keinen Platz mehr, und es gab kein Wissen über die Gestalt der Erde, zitierte MacLoughlin im Geiste Hobbes. Die Pflugscharen waren zu Schwertern geschmiedet worden.
Sie näherten sich dem Zentrum von Kismaayo. Die Häuser wurden höher, der Verkehr dichter. Ein Lastwagen mit Säcken voller Hirse schwankte vor ihnen her. Bunte Markisen spannten sich über Marktstände aus Wellblech, wo Obst, Gemüse und Reis angeboten wurden. Einige Bauern schafften es also doch, die Felder zu bestellen.
Der Transporter vor ihnen bog nach Osten in Richtung Hafen ab. Ahmed blieb auf der Hauptstraße Richtung Norden, die bis nach Mogadischu führte.
„Wohin fahren wir?“, fragte sie. „Verlidivert wieder ein Dieb seine Hand?“ Sie hielt sich am Türgriff fest, als der Wagen durch ein tiefes Schlagloch fuhr. „Das will ich nämlich nicht sehen. Oder wird der Informationsminister endlich die Moschee eröffnen, wo die katholische Kirche gestanden hat?“
Sie presste sich erschrocken in den Sitz, als Ahmed plötzlich auf die Bremse stieg. Aus einer Seitenstraße war ein Toyota-Pick-up eingeschert und hatte sich rücksichtslos vor sie gesetzt. Auf der Ladefläche saßen dicht gedrängt Bewaffnete. Jeder der grün gekleideten Männer hielt ein Schnellfeuergewehr auf dem Schoß. Die Kämpfer hatten sich rote Tücher so um den Kopf gewunden, dass sie nur durch einen schmalen Schlitz auf MacLoughlin hinunterschauten. Über der hinteren Bordwand hing eine schwarze Fahne mit weißen Buchstaben.
„Es gibt keinen Gott außer Allah“, las Ahmed. „Und Mohammed ist sein Prophet.“
MacLoughlins Handflächen wurden feucht. Im Rückspiegel sah sie, dass auch hinter ihnen jetzt ein Pick-up mit Milizionären fuhr, auf der Ladefläche war ein schweres Maschinengewehr montiert.
Sie schaute zu ihrem Fahrer hinüber. Ahmed schien nicht besorgt zu sein. Kurz kam ihr der Gedanke, dass er sie verraten haben könnte. Aber er war ein Bajuni. Seine Vorfahren hatten Kismaayo gegründet. Dann waren die Clans der Nomaden aus dem Westen gekommen und hatten sie verdrängt. Heute waren die Bajuni nur noch eine Minderheit, zu einem Leben als Fischer gezwungen. Auch Ahmed, der in London studiert hatte, war jetzt wieder Fischer. Außerdem arbeitete er für die Fanole Human Rights Organization, die sich um die Flüchtlinge kümmerte.
„Wo wollen die denn hin?“, fragte MacLoughlin. „Nach Mogadischu?“
Sie wusste, dass die Bewaffneten auf den Pick-ups zur Al-Shabaab gehörten. Die Taliban Somalias, die die Regierungstruppen aus den
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