Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
sah sich um. Die Kuppe des Hügels war mit hüfthohem Gras bewachsen, ein Gürtel aus Stechginsterbüschen und Brombeersträuchern legte sich um seine Flanke, und die dem Meer zugewandte Seite war kahl, ein Abbruch aus nackter Erde, den Steine säumten. Conor stellte sich auf den höchsten Punkt und sah zur Bucht hinunter.
    »Nichts!« rief er, blieb noch eine Weile stehen und kam dann herunter.
    »Südafrika«, sagte Wilbur, obwohl ihm klar war, dass Conor das wusste.
    »Die haben da ’nen Zaun im Meer, damit die Haie nicht die Leute fressen«, sagte Conor. Seit er mit Wilbur befreundet war, las er Unmengen von Büchern, oft noch spätnachts und im Schein einer Taschenlampe, damit seine Eltern nichts merkten. Dabei achtete er auf Titel, die Abenteuer versprachen, Nervenkitzel, noch besser handfestes Gruseln. Kopfjäger am Ende der Welt , Tödliche Safari , Flucht aus dem Reich der Kannibalen hießen die Werke, die ihm Schauergeschichten aus einemLeben boten, das für einmal nicht das eigene war. Er hob die Decke auf und schüttelte sie. Der Stoff roch modrig, Gras und Dreck klebten daran.
    Wilbur sah das Loch erst, als in einem Busch davor ein weißer Falter die Flügel ausbreitete und sich von der Brise, die aufgekommen war, hochheben und davontragen ließ, ein blinkender Punkt, der vor einer Wolke verschwand. Grashalme schraffierten die Öffnung, vor der frische Erdklumpen und gelbe Stechginsterblüten lagen. Er stapfte die Steigung hoch und ging in die Knie, um durch die Äste eines Busches ins Dunkel zu blicken. Nie im Leben hätte er sich getraut, die Hand auszustrecken, die Zweige zu trennen und hineinzufassen. Das überließ er Conor.
    »Eine Höhle«, sagte Wilbur. In der Erde sah er etwas, das er als Pfotenabdruck deutete.
    Conor ließ die Decke fallen und stieg zu Wilbur hoch. Beide starrten in das Loch. Ein Flugzeug summte im Himmel, eine Fliege hinter Milchglas.
    »Ein Dachsbau«, sagte Conor leise, als wolle er den Bewohner der Höhle nicht aufschrecken. Während Wilbur zurückwich, ging Conor näher, brach einen Ast entzwei und tastete mit der rechten Hand hinein. Er wünschte, er hätte seine Taschenlampe dabeigehabt, als er den Kopf in die Öffnung schob und ihn Dunkelheit umgab. Zu Wilburs Entsetzen kroch Conor in den Bau und war bald so weit darin verschwunden, dass nicht einmal mehr seine Schuhsohlen herausschauten.
    »Ich glaube, Orla hat gerufen«, sagte Wilbur, obwohl er nichts gehört hatte. Er stand da, bereit, jederzeit davonzurennen, sollte Conors Schrei aus dem Loch hallen. Mit der Tatsache, ein Feigling zu sein, hatte er sich ebenso abgefunden wie damit, nicht richtig zu wachsen oder keine Eltern zu haben. Er beruhigte sein schlechtes Gewissen, indem er sich einredete, im Notfall nur davonzulaufen, um Hilfe zu holen.
    »Da ist was!« rief Conor aus der Finsternis, dann ächzte er.
    Wilbur ging ein paar Schritte zurück, seine Knie wurden weich. Er verwünschte den Hund, der die Decke aus dem Loch gezerrt hatte, den Falter, der vor der Höhle aufgeflattert war, und sich selber, weil er seine Entdeckung nicht für sich behalten hatte. Über dem Meer hob ein Wind an und strich durch das Gras. Wilbur sah auf seine Uhr, um sich vonder Verlässlichkeit der Zeit trösten zu lassen, aber diesmal funktionierte es nicht. An einem Hang wuchsen wilde Margeriten, Orlas Lieblingsblumen, und Wilbur nahm sich vor, sie später für seine Großmutter zu pflücken.
    Conors Füße erschienen, die Beine, der Oberkörper, dann die Arme und schließlich die Hände, die einen Griff umfassten und eine Holzkiste ins Freie schleiften. Conor keuchte vor Anstrengung und Aufregung. Wilbur setzte sich ins Gras.
    Conor öffnete die Kiste, deren Holz die Jahre nahezu schadlos überstanden hatte. Er hob die Stoßzähne daraus hervor und gab einen davon Wilbur, der das geschwungene Horn aus Elfenbein ungläubig betrachtete. Das Messing war fleckig geworden, aber das Fernrohr ließ sich noch öffnen, und nachdem beide hindurchgesehen hatten, nahm Conor das Taschenmesser in die Hand und ließ eine Klinge aufschnappen. Wilbur fasste es vorsichtig an, obwohl Orla ihm verboten hatte, mit Messern zu hantieren. Im Boden der Kiste war ein Loch, und die Patronen in den Schachteln, die sich in Conors Händen aufzulösen begannen, fühlten sich kalt an.
    Wilbur ahnte, was sie noch finden würden, und er wusste, dass es zu spät war, dass sie den Deckel nicht zuklappen, die Kiste ins Loch zurückschieben und weggehen konnten. Er

Weitere Kostenlose Bücher