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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sehen, wer die Fragen stellte und wer die Antworten gab. Wir weckten schon Neid,wir galten schon als tabu, da hatten wir noch kein vertrauliches Wort gesprochen. Schnell und achtlos hatte ich alle anderen Fäden zerrissen, ich fühlte auf einmal mit Schrecken, daß es böse endet, wenn man alle Schreie frühzeitig in sich erstickt, ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Ich wollte an einem Leben teilhaben, das solche Rufe hervorbrachte, hooohaahoo, und das ihr bekannt sein mußte. Ich sah sie mit anderen gehen, freundlich reden, wie sie mit mir ging, redete. Ich fühlte die kostbaren Wochen mir durch die Finger rinnen, fühlte meine Ohnmacht zunehmen, mußte es erzwingen, machte alles falsch. Ich fragte sie – erst heute begreife ich meine Ungeschicklichkeit – : Kannst du dir denken, fragte ich, wer ausgerechnet der Metz, der Mathematiklehrerin, die Blumen aufs Pult gelegt hat? Nein, log sie gleichmütig, wie soll ich das wissen? Denn unter uns galt als ausgemacht, die Metz war makaber, wahrhaftig, das war das Wort. Ihr war nicht beizukommen, wer legte so einer Blumen aufs Pult? Jetzt weiß ich, daß sie es war, Christa T., und daß sie mich belog, weil sie keinen Grund sah, es mir zuzugeben. Die Metz nämlich, schrieb sie Jahre später in ihr Tagebuch, sei die einzige gewesen, die sie nicht unfrei und unglücklich machte. – Wie töricht dieser Stich nach all der Zeit.
    Die Zwischenträger ließ ich nun abfahren; warum merkten sie nicht, daß sie zu spät kamen mit ihrem Tratsch? Ich genierte mich nicht, zu ihr hinüberzusehen, ob sie es auch bemerkt habe. Sie hatte verstanden, sie antwortete mit einem dunklen spöttischen Blick, daß sie keinen Anlaß sehe, darüber aus dem Häuschen zu geraten. Sie lehnte an der Balustrade der Galerie, wo wir uns umzogen, und blickte auf die Turnhalle hinunter, aufden Spruch an der gegenüberliegenden Wand: Frisch – Fromm – Froh – Frei. Sie zog ihre weiße Bluse an, sie band das schwarze Dreiecktuch um und schob den Lederknoten hoch wie wir alle, denn auf den Führer war ein Anschlag verübt worden, und zum Zeichen unserer unverbrüchlichen Treue zu ihm trugen wir die Uniform. Ich glaubte sie nun zu kennen, ich rief sie sogar an, und sie antwortete gelassen, aber was sie eben gedacht oder gesehen hatte, wußte ich nicht. Mich brannte mein Unvermögen, ihr zu erklären, warum ich es um jeden Preis erfahren mußte.
    Ich fing an, Vorleistungen anzubieten. Einmal, als unsere Lehrerin vorbeigegangen war, mit ihrer klingenden Stimme unseren Gruß erwidert und uns gleichzeitig von Kopf bis Fuß gemustert hatte, so daß man sich jedesmal fragte, was vielleicht Falsches immer noch an einem sein könnte – da brachte ich fertig zu fragen: Du kannst sie nicht leiden? Jetzt war ja klar, wer hier verriet und wen und um wessentwillen. Christa T. sah sich nach unserer Lehrerin um, ich auch. Da war ihr Gang nicht mehr ausgreifend, sondern selbstgerecht, und die hoch in die Waden hinauf gestopften Strümpfe waren häßlich gestopfte Strümpfe und nicht das stolze Opfer einer deutschen Frau im textilarmen fünften Kriegsjahr. Ich blickte erschrocken Christa T. an, als sei es an ihr, das Urteil zu sprechen. Sie ist berechnend, sagte sie im Ton einer Feststellung. – Das wollte ich am liebsten nicht gehört haben, aber ich fühlte, sie sah die Dinge, wie sie waren. Sie hatte recht. Sie kam von Gott weiß woher, denn Eichholz kann jeder sagen, lief ihre Figuren auf unserem viereckigen Schulhof, die auf schwer bestimmbare Weise von den unseren abzuweichen schienen,ging unsere paar Straßen ab, die alle auf dem Marktplatz endeten, setzte sich auf den Rand des Brunnens, der den Namen unserer Lehrerin trug, denn die stammte aus einer der einflußreichsten Familien der Stadt – hielt ihre Hand in das Wasser und sah sich mit ihrem gründlichen Blick um. Und ich mußte auf einmal denken, daß dieses Wasser da vielleicht doch nicht das Wasser des Lebens war und die Marienkirche nicht das erhabenste Bauwerk und unsere Stadt nicht die einzige Stadt der Welt.
    Dieser Wirkungen, das weiß ich, war sie sich nicht bewußt. Ich habe sie später durch andere Städte gehen sehen, mit dem gleichen Gang, mit dem gleichen verwunderten Blick. Immer schien es, als habe sie auf sich genommen, überall zu Hause und überall fremd zu sein, zu Hause und fremd in der gleichen Sekunde, und als werde ihr von Mal zu Mal klarer, wofür sie zahlte und womit.
    Dabei lieferte sie Beweise, daß es ihr nicht ganz und gar

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