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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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Schmied, dieser ungehobelte Klotz von einem Mann, der Menschen meidet und die Gesellschaft der Tiere vorzieht, ist’s zufrieden.
    Nach Feierabend wird er ins Wirtshaus marschieren, wo ihm die dralle brünette Bedienung wie jeden Abend sein Herrengedeck serviert.
    Im Frühjahr wäre noch Zeit für eine Prügelei in der Schankstube, einen Ausritt oder eine kurze, tierärztliche Untersuchung deiner kleinen, milchweiß glänzenden Füllenzähne gewesen.
    Aber leider ist es Herbst, und bei Sonnenuntergang musst du zu Hause sein.
    5.
    Über den Rosensträuchern wabert eine süßliche Wolke Lockstoff. In jeder Blüte ein Brummen.
    Es ist ein besonderer Tag.
    Heute werden wir das Ritual vollziehen, den heiligen Akt, der uns endgültig und für alle Zeiten in ewiger Schwesternschaft aneinanderschweißen wird.
    Unsere Augen spiegeln einander ernste, feierliche Mienen.
    Der Dorn will mit Bedacht gewählt sein.
    Ich entscheide mich schließlich für einen, der mir besonders blutdurstig erscheint: Einer bräunlich gefärbten Haifischflosse gleich ragt er aus der Mitte eines daumendicken Zweigs. Kleine Dörnchen folgen ihm im Gänsemarsch.
    Mit chirurgischer Präzision amputiere ich das spitzgezackte Ding.
    Was nun?
    Ratlos sehen wir einander an.
    Ein schneller, gnadenloser Streich mit dem scharfen Dorn ins Finger- oder Handflächenfleisch würde zweifelsohne den ersehnten Blutstropfen aus seiner violetten Abgeschlossenheit ans Licht sprudeln lassen ⁠…
    Der Gedanke an Selbstverletzung ruft einen plötzlichen, heftigen Widerwillen in mir wach. Ich knabbere nicht an Nägeln, kratze nicht an Schnakenstichen, mag meine Krallen, liebe meine Unversehrtheit.
    Um die Verletzung zu vermeiden, suche ich meine Arme nach alten Wunden ab. Unweit vom Ellbogen werde ich tatsächlich fündig und beginne, mit dem Dorn an dem alten, schon im Abfallen begriffenen Wundschorf herumzuschaben.
    Ein kurzer Seitenblick zeigt mir, dass du dich für eine ähnliche Methode entschieden hast. Genug Auswahl hast du ja.
    Nicht lange, und die zerbissene Nagelhaut deines rechten Daumens blutet übermütig drauflos.
    Bei mir dagegen: Nichts.
    Unter der Kruste hat sich bereits neue, helle, heile Haut gebildet.
    Erwartungsvolle Blicke von rechts.
    Ich schabe verbissen weiter.
    Am Ende meines Kratzers stoße ich auf ein paar Millimeter nässendes Rosa, welches ich so lange bearbeite, bis es sich den Anschein gibt, ein kleines Bluten zu sein.
    Das muss ausreichen.
    Ich beeile mich, deinen Daumen gegen meinen Unterarm zu pressen. In dieser, etwas merkwürdigen Position verweilen wir sodann mehrere Minuten.
    Ob der rote, schmierige Fleck, der, als du schließlich deine Hand zurückziehst, meinen Kratzer wie ein Ausrufezeichen aussehen lässt, von dir oder mir oder uns beiden stammt, ist nicht mehr festzustellen.
    Um jeden Verdacht auf Blutsbetrug im Keim zu ersticken, wies ich mehrmals eifrig darauf hin, dass meine Haut, egal ob unversehrt oder verwundet, dein Blut ohnehin »wie Wasser« an-, auf- und eingesaugt habe. Zur Bekräftigung entrollte ich den Gartenschlauch und ließ einige Wassertropfen auf meinen Handrücken fallen.
    30 Sekunden später schallte ein triumphierendes »Siehst du!? Alles weg!!« durch den Garten.
    Der Beweis meiner Redlich- und Weißwestigkeit war mindestens genauso wichtig wie die Erhaltung meiner Unversehrtheit. Zu lügen bedeutete, meinen Namen mit unschönen Schleifspuren zu besudeln, wie man sie aus den Kloschüsseln öffentlicher Toiletten kennt.
    Die Rufnamen von Gewohnheitslügnern stellte ich mir äußerst schäbig, mit abblätterndem Lack und bräunlichen, wie Schimmelpilz wuchernden Rostwolken vor. Hatte man die Glanzschicht, welche die Namen aller Wahrheitsliebenden schützend umhüllt, einmal verloren, musste auch das Innere anfangen zu bröckeln und irgendwann unweigerlich zu Staub zerfallen.
    Ich war mir sicher, dass der Zerfall oder Verlust des Wortes, das von Geburt an das eigene Ich benennt, Ende, Auslöschung und Tod bedeuten mussten.
    Um meine These auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen, unternahm ich, vor dem großen Spiegel im Elternschlafzimmer sitzend, einen Selbstversuch: Zunächst formte ich mithilfe eines Füllfederhalters und einigen sorgfältig geschwungenen Schreibschriftschlaufen meinen Vornamen. Anschließend näherte ich mich mit dem Tintenkiller dem letzten Vokal, den ich für das Buchstaben-Pendant meiner Füße hielt.
    Mit Adleraugen beobachtete ich mein Spiegelbild, während der Killer die Linie

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