Nachhinein
weiß, dass sie sich im Bauch des Klaviers befinden, und deren Aufgabe es ist, unermüdlich gegen gespannte Saiten zu schlagen, besitze ich nur ein einziges, feucht-rosa Zungending, das meine Töne auf dem Weg nach draußen zu Worten formt.
Was ich nicht verstehe, ist diese Sache mit den sogenannten »Stimmbändern« …
Wenn ich beim Sprechen die Hand an die Kehle lege, spüre ich das leichte, summende Schwingen jener Bänder, die meine Saiten sind. Das Rätsel, wie meine Zunge, dieses rosarote, fleischige Hämmerchen, das doch so weit vom Kehlkopf entfernt hinter zwei Zahnreihen liegt, diese Bänder zum Schwingen bringt, bleibt unlösbar, solange sich mein Korpus nicht wie der meines hellhölzernen Instruments aufklappen und beim Tönen beobachten lässt.
Aber vielleicht muss man gar nicht alles wissen.
Jedenfalls liebe ich das Klavier, habe es vom ersten Ton an geliebt.
Ich halte es für weitaus klüger als die Menschen. Immerhin besteht sein Alphabet aus 52 dicken und 36 schmalen Buchstaben, während das Alphabet, welches wir in der Schule lernen, nur 26 zu bieten hat. Hinzu kommt, dass sich die im Klassenraum der 1a gelernten Zeichen nur sehr mühsam, und manchmal ohne Sinn zu ergeben, zusammenfügen lassen. Auf dem Klavier dagegen kann man ALLES aneinanderreihen, ist alles Musik …
Anfangs habe ich mich nicht getraut, die Stimmen weit auseinanderliegender Tasten miteinander zu vergleichen. Ich war mir nicht sicher, ob sich nicht die piepsigen, hohen Stimmchen der rechten Seite vor dem unheimlichen, tiefen Grollen des linken Klaviaturendes fürchten würden.
Allerdings wurde mir schnell klar, dass sie alle, die hellen wie die dunklen, verschwägert, verschwistert und verwandt sind; dass sie einen großen Clan bilden, zu dessen Anführerin ich werde, sobald ich meinen Platz auf dem Hocker einnehme.
In meiner Experimentierphase, bevor mich meine Eltern zu Frau Lichtel in den Unterricht schickten, nutzte ich jede elternfreie Minute, um die verschiedensten Griffe auszutesten: den Einfinger-Griff, den Zwei-, Drei- und Zehnfinger-Griff, den Faust-, flache Hand- und Unterarm-Griff und schließlich sogar den Kinn-, Gesichts-, Zungen- und Nasen-Griff.
Um herauszufinden, welche Laute mein Körper und die Gemeinschaft aller Oktaven miteinander produzieren würden, kletterte ich vom Hocker auf die Tasten und legte mich seitlich auf die Klaviatur, was einen massiven, wunderbar mächtigen Klang erzeugte. Aufgespannt zwischen dem höchsten und tiefsten Ton , hob ich die Hüfte und ließ meine knochige Seite wieder und wieder mit Karacho auf die Tasten niedersausen.
Frau Lichtel war für derartige Vor- und Anschläge leider nicht sehr empfänglich. Sie bestand darauf, dass ausschließlich mit den Fingern gespielt wurde.
Auch die Abfolge der verschiedenen Töne war nicht länger frei von mir wählbar, sondern wurde von einem speziellen Lesebuch vorgegeben, dessen linierte Seiten mit unregelmäßigen Punktemustern bedruckt waren.
Jeder einzelne der schwarzen, langstieligen Punkte, die wie Kirschen zwischen den fünf horizontal und parallel verlaufenden Linien klebten, symbolisierte eine weiße oder schwarze Taste.
Das Übersehen eines einzigen Punktes galt bereits als »Fehler«. Selbiges galt für das Verfehlen einer Taste.
Ob sich die fehlerhafte Variante, die verspielte Note, eleganter, lustiger, schräger, schiefer oder einfach nur interessanter anhörte als die vom Buch befohlene Variante, spielte dabei keine Rolle.
Hohle, gefüllte, mit Balken zu Gruppen zusammengefasste oder mit Fähnchen versehene Notenköpfe zu deuten, langweilte mich, und die herzlose Kategorisierung der Musik durch ein vollkommen fantasieloses Notensystem missfiel mir enorm.
Um den fade schmeckenden, mit den Augen zu erntenden schwarzen Kirschen zu entgehen, nahm ich die Stücke auf, indem ich Frau Lichtels vorspielende Finger beobachtete und anschließend deren Bewegungsabläufe imitierte.
Während der Klavierstunden boten sich mir zwei Perspektiven: die Vogelperspektive, von der aus ich die über schwarz-weiße Felder rasenden Lichtelschen Hände begleitete, sowie die des kleinen Froschs, schräg am Notenbuch vorbei, Richtung Regal, wo sich mein Blick zwischen den emporgereckten Rüsseln Hunderter Porzellanelefanten verfing.
Bald kannte ich sowohl Frau Lichtels altersgefleckte Handrücken, die verästelten Wege ihrer von den Handgelenken zu den Knöcheln führenden Adern, das Schimmern ihrer langen, perlmuttfarbenen
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