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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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»Zeugung« meinen Gedanken nur wenig Sportlichkeit abverlangt. Natürlich ist dies noch längst nicht das Ende der von »bumsen« ausgelösten Gedankenverkettung, und normalerweise drängt sich an dieser Stelle der Begriff »Empfängnis« auf, der mich unweigerlich zum »Mutterbauch« und, da mein Aufenthalt dort sich der Erinnerung entzieht, stattdessen zum Gesicht meiner Mutter zurückführt.
    Die Gesichter und Bäuche unserer Mütter hätten unterschiedlicher nicht sein können.
    Auf der einen Seite der Straße, die vielleicht Hirsch-, vielleicht Reh-, vielleicht Frosch- oder Eulenstraße hieß, Gesicht und Bauch der Akademiker-Mutter, auf der anderen dagegen Züge und Nabel der Arbeiter-Mutter. Hüben Lehrplan, drüben Schichtplan; da Eigenheim, dort Mietwohnung; rechts Standpauke, links Arschvoll. Frischobst und Frischluft und Kompost im Osten, Dosen und Kippen und Ascher im Westen.
    Nichtsdestotrotz verbanden unsere so verschiedenen Mütter einige nicht unwesentliche Gemeinsamkeiten: Auf beiden lastete die Herkulesaufgabe der Instandhaltung von Haus, Hof und Familienfrieden, wobei sie ihre chronisch übermüdeten Gesichter stets mit einem tapferen Lächeln schmückten ⁠…
    Was sie, Jasmin oder Celine oder Justine und mich, das Mädchen, deren Name vielleicht Lotta, vielleicht Luisa, vielleicht Luzia lautet, jedoch am meisten faszinierte, und was uns unserer kindlichen Meinung und Überzeugung nach regelrecht zur Freundschaft, wenn nicht gar Schwesternschaft, verpflichtete, war die Tatsache, dass beide Mütter auf Namen getauft worden waren, deren Ursprünge in der Botanik wurzeln. Sowohl auf der Ost- als auch auf der Westseite der Hirsch- oder Reh-, Frosch- oder Eulenstraße, blühte es auf Briefen, Buchdeckeln und Dokumenten, und wenn unsere Väter Wünsche hatten, riefen sie einen Blumennamen, der vielleicht Iris, vielleicht Margarita, vielleicht Rose oder Susanne lautete.

    Die Logik deiner Lo cken.
    Selbstverständlich mussten ihr Locken wachsen.
    Bereits wenige Wochen nachdem sie ihren geborstenen Schädel rasiert und zusammengeflickt hatten, also zunächst von störenden, blutverklebten Haarmassen befreit, und diese durch die feingezackte, knotige Linie des sterilen, in der Chirurgie eingezogenen Spezialfadens ersetzt hatten, machte sich die gekräuselte Unregelmäßigkeit bemerkbar, die wohl das Resultat der gewaltigen Erschütterung, des ungeheuren Aufpralls war.
    Oft stelle ich mir die noch Monate nach dem Unfall leise zitternden Haarwurzeln vor, jede einzelne durchruckelt von kleinen Nachbeben, die an das große, das verheerende Unglück gemahnen. Eine Tausendschaft haariger Erinnerungsstützen, welche unbedachte Übermütigkeiten und Überstürzungen verhindern wollen. Um auf die permanente Bedrohung der Schädelplatte durch plötzliche, gewaltsam verursachte Erschütterungen rechtzeitig aufmerksam zu machen, senden sie korkenzieherförmige Warnhinweise aus, die über Ohren, Schläfen, Stirn und Augen fallen.
    Warnende Wellen.
    Ein hellbraunes bis mittelblondes Meer aufgezeichneter Schwingungen, die einen widerspenstigen Nimbus um ihr Gesicht legten. Ein Heiligenschein, unter dem es im Sommer entsetzlich heiß wurde, dessen Widerborstigkeit beim Kämmen die Arbeiter-Mutter zum Fluchen und das Mädchen, ängstlich geduckt unter den Hieben der Bürste, zum Weinen brachte.
    3.
    Die Kindergärtnerinnen müssen das zukünftige gewellte Strahlen vorhergesehen haben, als sie die Kleine mit dem Stoppelkopf der »Sonnengruppe« (»rote Gruppe«) zuteilten.
    Mich dagegen steckten sie in die sogenannte »Mondgruppe« (»gelbe Gruppe«), was mich etwas betroffen machte, als ich herausfand, dass der Mond in Wirklichkeit eine Art Almosenempfänger der Sonne ist, ein passiv Angestrahlter ohne leuchtende Wirkkraft.
    Waren wir, die »Gelben«, lediglich kurzbeinige Mitläufer?
    Eine Bande Abglanz?
    Oder sollten wir, die wir allesamt aus gutbürgerlichen oder neureichen Familien stammten, uns so früh wie möglich in der Kunst des Understatements üben und den Anderen, den Arbeiter- und Ausländerkindern, großherzig und uneigennützig den Vortritt in unserem katholischen Kindergarten-Sonnensystem überlassen, sie einmal im Zentrum, im Mittelpunkt stehen lassen, bevor sie in unseren gutgehenden mittelständischen Betrieben als kleine und kleinste Rädchen arbeiten würden?
    Wer will, wenn es um Namen, Farben und Gruppenzusammenstellungen geht, an Willkür oder Zufälle glauben?
    Ich nicht.
    Die Zuweisung ihres

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