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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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Stoppelkopfes zur Sonnengruppe war genauso wenig zufällig, wie die Besetzung der Rollen unseres, im letzten Kindergartenjahr aufgeführten, Theaterstücks.
    Das Schauspiel, eigentlich mehr Musical und Tanz als Theaterstück, das wir Ende Juli vor Müttern, deren Fingerkuppen noch zerstochen vom Nähen der Kostüme waren, Geschwistern und vereinzelten, wahrscheinlich arbeitslosen, Vätern aufführten, hieß »Safari«.
    IHHH gel/Stoppelkopf/JasminCelineJustine übernahm den Part einer »Wilden« oder, korrekter ausgedrückt, einer »Stammeskriegerin«. Ich hingegen wurde von den Erzieherinnen ermutigt, die Rolle des »Safari-Guides« zu übernehmen, was mich zum einzigen Kind mit Sprechrolle, Lampenfieber und Auswendiglernzwang machte ⁠…
    Während Stoppelkopf sich also nach belieben WILD und ungestüm gebärden durfte, musste ich einen unhandlichen, gefährlich scharfkantigen Jeep aus Pappkarton über die Bühne schleppen und nebenbei Verse rezitieren:
    »… aus dem großen, blauen NIIIIIILE
    kommen jetzt die KROKODIIIIIILE !!«,
    brüllte ich die Zuschauer voller Stolz an. Um den Zuschauern außerdem die bestmögliche Sicht auf meine neue, extra für diesen Anlass erstandene Oberbekleidung zu ermöglichen, galt es, den hellblonden Jungen, der den männlichen Safari-Guide verkörpern sollte, mit Hilfe des Ellbogens möglichst weit vom Jeepfenster abzudrängen. Bei dem meiner Meinung nach äußerst sehenswerten Kleidungsstück handelte es sich um eine fingerhutfarbene, also dunkelviolette Bluse, deren Stoff sich nach einem kurzen Weg von fünf Knöpfen in »zwei Zipfel zum Knoten« teilte und dank dieser Besonderheit ungehinderte Sicht auf meinen Nabel ermöglichte. Jene handbreite Nacktheit empfand ich als überaus spektakulär, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass bauchfreie Tops für mich der Inbegriff von Sexiness waren.
    Da ist es! Das Reizwort mit vier Buchstaben, hier mit kesser -ness-Endung zum Substantiv geformt. Schamlos quetscht es sich zwischen modale Präposition und Hilfsverb: DAS Wort, das in allen Vokabeln, die ein X in sich tragen, von nun an immer mitklang.
    Sexy.
    Darunter verstand ich das schlängelnde, geschmeidige, katzenhafte Körpergefühl, das sich einstellte, wenn ich die glatten, sanft geschwungenen Hautlandschaften meines Körpers abfuhr, und das durch die Berührung ausgelöste Bedürfnis nach mehr Fingern, fremden Fingern.
    Es, Eh, Ix, Ypsilon.
    Mysteriöses Erwachsenenwort, das irgendwie mit der Entdeckung der Vollkommenheit der eigenen Form und dem Vorsatz, diese mit mehr als zwei Händen zu erforschen, zusammenhängen musste.
    Aber das ist nicht, nein, das KANN unmöglich alles sein ⁠…
    Die Ahnung, dass das, was ich fühlte und mit dem X-Wort verband, nur einen Teil seiner Möglichkeiten erfasste und meine Erfahrungen lediglich Andeutungen und Hinweise auf die tatsächliche, ausgewachsene Bedeutung des Wortes VERKÖRPERTEN , verstärkte sich mit jedem gelebten Jahr. Irgendwo in den verwinkelten Tiefen zukünftiger Abgründe, fernab vom Scheinwerferlicht der Selbstdarstellung, lauerte noch mehr: ein dunkles, leicht bösartiges, immer durstiges Carnivor-Mehr, das sich alles und jeden einverleiben würde; ein nimmersattes Kriechtier, das sich im Blutrausch vor lauter Fleischeslust den Kiefer ausrenken und eines Tages an den Knochensplittern seiner gierig verschlungenen Beute ersticken würde. Solch ein Tier spürte ich unter meinen Haut- und Muskelschichten heranwachsen und auf den Moment seiner Entfesselung warten.
    Doch zurück zur Safari.
    Ich erinnere mich, dass der Anblick der übrigen, unter plumpen Tiermasken aus Pappmaschee versteckten Kinder unsexy war und mich abstieß.
    Die Mädchen und Knaben mit den grauen Fladen an den Ohren, die sich umständlich verrenken und die Elefantennase mittels ihrer Arme darstellen mussten, empfand ich als besonders unattraktiv. Auch die Darsteller der Riesenschlange, insbesondere die Füllsel, die weder das Kopf- noch das Schwanzende der Schlange verkörperten, hatten nicht den Hauch einer Chance, sich meine Sympathien zu erspielen.
    Ich muss allerdings zugeben, dass ich den ein oder anderen neidischen Blick auf JasminCelineJustines kurzes Kriegerinnen-Baströckchen geworfen habe ⁠…
    Nicht unwahrscheinlich, dass mein begehrliches Schielen in Richtung Mini-Bastrock die bittere, zum Ausspucken reizende »Man-kann-nicht-alles-haben«-Sprechblase aus dem Mund einer Erzieherin in mein Gesicht platzen ließ, womit sie mir zu

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