Nacht der gefangenen Träume
sein Herz war schwer wie Kahlhorsts Buttercremetorte, und nichts war wunderbar. Er war noch nie so allein gewesen. Natürlich. Auch Hendrik war allein, und Hendrik tanzte. Aber …
Frederic schloss die Augen und versuchte, glücklich zu sein. Er versuchte es sehr. So sehr, dass er die leisen Schritte nicht hörte, die sich ihm näherten.
Da tippte ihm jemand auf die Schulter. Und es flüsterte aus der Nacht, ganz nah bei seinem Ohr, genau wie damals in der Ruine des Abrisshauses.
»Rück mal ’n Stück!«, flüsterte es. »Ich bin es, Änna.«
Nachwort
»Schön«, seufzt Frederic. »So war es. Genau so. Glaube ich.«
»Habe ich etwas vergessen?«, frage ich.
Er überlegt. »Ah … doch! Dass ich nichts mehr sehe. Nichts Besonderes mehr, meine ich. Und Änna auch nicht. Es war einfach am nächsten Tag weg. Irgendwie schade. Aber auch ganz gut. Es war so anstrengend. Zu sehen, meine ich. Und … den Mülltonnenlehrer müssen wir noch erwähnen. Der ist doch Lateinlehrer geworden, oder? Damit ihm endlich wirklich jemand zuhört?«
»Ja. An einer anderen Schule. Einer von denen, auf die die St.-Isaac-Schüler aufgeteilt wurden. Erinnerst du dich an das Sandmännchen auf seiner Schulter? Leider streut es begeistert Sand, und die meisten Schüler schlafen nach kurzer Zeit ein.«
»Und Claudius?«
»Der hat jetzt einen zahmen Karpfen zu Hause, mit dem unterhält er sich auf Blasisch. Den Rest der Zeit besucht er einen Volkshochschulkurs für sinnvolles Sprechen.«
»Man könnte ihn vielleicht umschulen«, sagt Frederic. »Zum Fischberater oder so.«
»Fischberater?«
»Oh, ich dachte nur, es hört sich gut an. Außerdem hast du noch vergessen, dass Kahlhorst eine Konditorei aufgemacht hat. Und dass ich diese Maschine für Lisa gebaut habe, um ihre Wände umzuspritzen. Und wie sie aus Versehen stattdessen ihre Haare damit umgespritzt hat, sodass sie ganz gelb waren, wie vorher die Tür, und dass sie sie dann abgeschnitten hat und dass …«
»Das alles ist schon eine andere Geschichte«, sage ich. »Das gehört nicht mehr hierher.«
»Na dann …« Frederic kaut mal wieder auf der Unterlippe herum, nachdenklich. »Trotzdem fehlt noch etwas. Bruhns. Die Leute wissen immer noch nicht, was aus Bruhns geworden ist.«
»Dann erzähl den Leuten, dass er nicht mehr Direktor ist. Und auch nicht mehr Lehrer. Erzähl ihnen, dass er jetzt einen anderen Beruf hat.«
»Wieso ich? Ich dachte, du erzählst die Geschichte!«
»Es … es ist mir ein bisschen peinlich, Frederic, weißt du.«
»Na gut. Ich erzähle es ihnen. Also: Bruhns ist jetzt nett geworden. Richtig nett. Weil er doch seine Albträume wiederhat. Er hat schon noch seine Macken, er hat aber versprochen, nie wieder Leute zu beißen oder gefährliche Maschinen zu bauen. Und weil er nicht mehr Lehrer ist, schreibt er jetzt Geschichten. Zum Ausgleich für alles, na ja … hat er mir versprochen, meine Geschichte aufzuschreiben.«
»Ouff. Hoffentlich ist sie so geworden, wie du es wolltest.«
»Hoffentlich.« Frederic steht auf. »Jetzt muss ich los«, sagt er. »Ich muss doch endlich den Saugnapf in die Fenster-schließ-Maschine einbauen, die für Lisa. Und dann treffe ich mich mit Änna, und dann …«
»Ich weiß schon«, sage ich lächelnd. »Du hast eine Menge zu tun.«
Und ich mache den Computer aus und gehe zum Fenster, um ihm nachzusehen, wie er unten die Straße entlangrennt. Er rennt in eine Zukunft, die ich nicht teilen und nicht verstehen kann. Aber er sieht glücklich aus.
Ich bleibe hier und schreibe Bücher.
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Mehr von Antonia Michaelis bei Oetinger
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