John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
1
Provinz Tscheljabinsk, Russland
Ein schwächerer Mann hätte Schamir Taghis Schmerzen nicht ertragen. Für den Durchschnittsamerikaner, der bei jedem Wehwehchen zu Medikamenten griff, wären derartige Qualen nicht auszuhalten gewesen.
Aber Schamir war kein Amerikaner. Er war ein in Russland lebender Kasache, achtundfünfzig Jahre alt und unheilbar an Krebs erkrankt. An Lungenkrebs, der auf die Knochen übergegriffen hatte. Der Schmerz zerriss ihn von innen her, wie messerscharfe kleine Klauen, die an seinen Rippen zerrten.
Und dennoch stellte sich Schamir jeden Tag aufs Neue dieser Qual. Für ihn gab es weder Morphium noch Hydrocodon. Das waren teure Medikamente, und er war arm. Stattdessen nahm er Aspirin, das sein Sohn Rafik in großen weißen Flaschen, deren Etiketten sich bereits lösten, in Makuschino in der Apotheke kaufte. Er hätte ebenso gut Zuckerbonbons schlucken können, so wenig Wirkung zeigten die Pillen.
Vor seiner Erkrankung war Schamir ein starker Mann gewesen, neunzig Kilo schwer und mit Muskeln bepackt, die er sich durch lebenslange, harte Arbeit erworben hatte. Nun wog er noch fünfundsechzig Kilo. Er konnte
nichts mehr essen, weil ihm das Schlucken unerträglich war. Nicht einmal rauchen konnte er noch, dabei war das sein einziges Laster gewesen.
Er litt Schmerzen, für die es keine Worte gab.
Aber nun würde es nicht mehr lange dauern.
Vor einer Woche hatte sein Sohn einen Mann zu ihm gebracht. Einen hellhäutigen Araber, den der Imam der örtlichen Moschee empfohlen hatte. Ein ruhiger Mensch, bewandert im Buch, was Schamir immer wichtiger wurde, je näher der Tod rückte. Der Mann hatte sich auf den Betonboden von Schamirs Wohnung gekniet und seine Hand genommen.
»Vater«, hatte er gesagt, und Schamir hatte sich nach Rafik umgesehen, bevor er seinen Irrtum bemerkte. »Vater, willst du den Propheten mit deinem Tod preisen?«
Schamir hatte genickt.
»Wirst du dann etwas für mich tun? Für alle Muslime?«
Der Kamaz-Tanklaster raste mit mehr als einhundert Stundenkilometern die zweispurige Straße entlang, wobei er mit den Rädern der Fahrerseite genau auf der Mittellinie blieb. Einen halben Kilometer vor ihm fuhr ein entgegenkommender Lada an den Straßenrand, um Platz zu machen. Hoch oben in der Kabine des Kamaz grinste Nikolai Nepetrow vor sich hin. Bei Überlandfahrten ließ er es gern darauf ankommen, ob der andere zuerst nachgab. Bisher hatte sich noch keiner mit einem Tanklastzug anlegen wollen, der dreißigtausend Liter Benzin geladen hatte.
Seit fünf Jahren transportierte Nepetrow Benzin von der gewaltigen Sibneft-Raffinerie in Omsk zu Tankstellen im achthundert Kilometer westlich gelegenen Tscheljabinsk.
Er hatte die Strecke gründlich satt. Auf der Karte war die Straße Omsk-Tscheljabinsk als vierspurige Autobahn eingezeichnet. Tatsächlich war sie zumeist zweispurig und wurde von Militärkonvois verstopft, die mit fünfzig Stundenkilometern dahinratterten. Hinter solch einem Konvoi hatte Nepetrow auch an diesem Vormittag gehangen. Erst vor wenigen Kilometern war es ihm gelungen, an einer Stelle zu überholen, wo die Straße tatsächlich vierspurig war.
Der Lada blieb hinter ihm zurück. Die Straße vor ihm war frei, zwei Spuren mit dichten Tannenwäldern zu beiden Seiten. Nepetrow trat die Kupplung durch, schaltete herunter und gab Gas. Das Dröhnen des mächtigen Motors grollte durch die Fahrerkabine. Er legte die Hände oben auf das überdimensionale Lkw-Lenkrad und fing an, laut zu singen. Po ulize mostowoi schla dewiza sa wodoi … Er war ein guter Sänger.
»Über die gepflasterte Straße ging ein Mädchen Wasser holen, ging ein Mädchen Wasser holen, ging das kalte Quellwasser holen.« Ein russisches Volkslied, das er besonders liebte. Seine Stimme schallte durch die Fahrerkabine. »Hinter ihr her ruft ein junger Bursche: ›Mädchen, bleib stehen! Mädchen, bleib stehen!‹ Sprich doch ein bisschen mit mir!«
Nepetrow spürte ein angenehmes Prickeln zwischen seinen Beinen, als er sich die junge Frau in warmen Wollstrümpfen vorstellte, wie sie sich mit einem Holzeimer in der Hand und leicht gespreizten Beinen über den Brunnen beugte. Vielleicht würde er ein paar hundert Rubel springen lassen, wenn er den Kraftstoff abgeliefert hatte, und sich eine Frau suchen, mit der er sich amüsieren konnte. Auch wenn sein Mädchen grell geschminkt sein
und nach den anderen Männern stinken würde, die sie an diesem Tag beehrt hatten.
Draußen schoben sich dicke
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