Nacht der gefangenen Träume
Privatschule. Und diese Privatschule produzierte Musterschüler, Oxford-Stipendiaten und Harvard-Anwärter wie am Fließband; Leiter internationaler Unternehmensketten, Börsenmakler, Chirurgieprofessoren und Politiker. Die Eltern der Stipendiaten und zukünftigen Professoren ließen sich den Spaß eine Menge kosten. Hätte der Direktor das Geld in die Außenfassade der Schule gesteckt – die Engel am Portal hätten längst goldene Nasen besessen, goldene Nasennebenhöhlen sogar. Aber vielleicht mochte der Direktor die Engel nicht oder vielleicht war er einfach nur geizig, denn ihre Nasenspitzen bröckelten weiter ungestört vor sich hin. Der Direktor hieß Bruhns, Bork Bruhns. Doch bei den meisten Schülern – und auch den meisten Lehrern – hatte sich unwillkürlich der Glaube festgesetzt, er hieße mit Vornamen Herrdirektor. Nur Frederic nannte ihn in seinem Kopf manchmal Bork Bruhns, weil er fand, dass »Bork« genauso düster klang, wie der Direktor aussah.
An dem Montagvormittag, an dem Frederics Geschichte begann, wachte Bruhns über eine Deutscharbeit der siebten Klasse – der jüngsten in St. Isaac. Der Wind knisperte in den Bäumen und die bunten Herbstblätter füllten die Luft mit ihrem Leuchten, und im dritten Stock am vierten Fenster von links saß ein dreizehnjähriger Junge mit braunem Wuschelhaar und einer spitzen Nase und träumte.
Das war Frederic.
Er träumte von der Erfindung einer neuen Maschine, während Herrdirektor Bruhns zwischen den Bänken auf und ab ging und alle anderen in der Klasse eifrig schrieben. HD Bruhns (wenn er nicht »Bork« dachte, kürzte Frederic wenigstens das »Herrdirektor« im Kopf ab, um Zeit für Wichtigeres zu sparen) hatte ihn ganz nach vorne gesetzt, neben Josephine, die Klassenbeste. Offenbar hoffte er, Josephines Eifer würde auf geheimen Umwegen in Frederic hineindiffundieren (Bruhns liebte Fremdwörter) und Frederic zu einem besseren Schüler machen.
Er hatte sich getäuscht. In Frederics Kopf existierte Josephine gar nicht. Er brauchte nur zu Beginn der Stunde einmal kurz zu blinzeln, und ihre gebügelte weiße Bluse zerfiel zu Staubkörnern. Ihre langen blonden Haare verblassten wie ein schlechtes Foto. Da waren nur er, Frederic, und das Herbstlicht und die Maschine, die er erfand. Im Kopf fertigte er eine genaue Zeichnung von ihr an. Sie war dazu da, das Licht draußen einzufangen und zu speichern, sodass es für den ganzen Winter reichte. Man musste nur die Räder und Drähte in der richtigen Reihenfolge anbringen, natürlich auch die Spiegel – und die große Batterie … Er nagte an seiner Unterlippe und überlegte, wie man möglichst viel Licht durchs Fenster hereinbefördern könnte. Ein bruhnsförmiger Schatten in einem dunklen Anzug wanderte durch den Rand seines Gesichtsfeldes. Vielleicht könnte er zusätzlich eine Maschine erfinden, die HD Bruhns durchs Fenster hinaus beförderte …
Frederic schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Er konnte das Klassenzimmer bei seinen Überlegungen nicht brauchen: Die kreischend neonfarbigen Chemietabellen (Elemente auswendig lernen macht Freude!) und die Apotheker-Poster von knuffigen Hamsterchen und Hündchen, für die man in der siebten Klasse viel zu alt war, machten jeden normalen Menschen über kurz oder lang wahnsinnig. Sie waren größer als Josephine und ließen sich schlechter ausschalten. Frederic atmete erleichtert auf, als die Hamsterchen und der dreiwertige Phosphor hinter seinen Lidern verschwanden …
Und da passierte es. Ganz plötzlich.
Etwas biss ihn in den rechten Arm.
Etwas Kleines mit sehr scharfen Zähnen.
Der Schmerz kam so plötzlich, dass Frederic nicht einmal schrie. Er schnappte nur nach Luft und öffnete die Augen. Auf seinem rechten Unterarm, gerade oberhalb des Handgelenks, prangte eine rote Stelle. Und noch während er sie anstarrte, wurden darauf langsam die tiefen Abdrücke von zwei Reihen winziger Zähne sichtbar. Leuchtend rote, brennende Abdrücke. Ein einzelner, dicker Tropfen Blut trat aus der Haut hervor und glänzte in der Herbstsonne wie ein nasser Kieselstein.
Frederic schüttelte benommen den Kopf. Was war geschehen?
Er suchte den glatten, kratzerlosen Tisch mit den Augen nach einem kleinen Tier mit spitzen Zähnen ab. Einer Maus, die vom Abrisshaus herübergekommen war. Natürlich war da keine Maus. Er sah unter seinen Stuhl. Unter den Tisch. Nichts. Nur der blau marmorierte Linoleumboden und Josephines violette Riemchenschuhe mit den
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