Gotterbarme (German Edition)
Noch 4 Tage Prolog
Lydia rann der Schweiß über die Stirn, ihr Mund ausgedörrt, die Lippen welk. Die Luft schmeckte nach Blut und Schweiß, wie bei Bestien auf der Jagd. Sie beträufelte ihre Lippen mit dem wenigen Wasser und fegte mit dem Handrücken über ihr Gesicht.
Der kalte metallische Untergrund machte jede Bewegung schmerzhaft. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange sie hier an dem kalten, feuchten nach Schimmel stinkenden Ort weilte. Sie schämte sich über ihre fortlaufende Naivität. Die Kids im Heim sagten ihr ständig, wie blauäugig sie durch die Welt ging. Hänseleien betreffend ihrer pickeligen Haut, bis hin zum Magerjoghurt waren ständige Begleiter.
Froh endlich den Weg gehen zu können, Eigenes auf die Beine zu stellen, egal was die anderen sagten, forderte sie ihr Leben heraus. Beim letzten Wiedersehen, da hatten sie blöd gegafft, was aus ihrem pickligen Gesicht wurde, heute fand man sie in einer Werbekampagne für einen großen Kosmetikhersteller.
Ihr fehlte der Mut, sich zu wehren, nein zu sagen zu diesen Abartigkeiten.
An diesem dunklen frostigen Ort hätten sie sich sicher die Mäuler zerrissen, dass sie immer das Unheil anzieht. An der Wand lehnte ein Stuhl und ein Tisch, das Makabere, dass ihre verdammten Fesseln nicht bis dahin reichten.
Die meiste Zeit sann sie vor sich hin, ob er heute kommt? Zeitweise kam er nicht, auch kam es vor, dass er mehrmals am Tag bei ihr auftauchte, mal um zu reden, mal um sich an ihr zu bedienen. Mittlerweile machte es ihr nicht mehr so viel aus. Der Schmerz, den sie anfangs hatte, ihren Stolz auf ihre Jungfräulichkeit mit 21 schwand endloser Apathie. Die Schreie der anderen in den anderen Räumen, das laute animalische Knurren und Schmatzen, ihre ständigen Blicke auf die Tür, um nicht das selbige Schicksal zu erleiden. Klare Gedanken, geschweige Fluchtmöglichkeiten schienen aussichtslos.
Jeden Winkel des verdunkelten Raumes ist sie abgelaufen, wenn sie nicht wie heute an Handschellen gekettet, ihrer Notdurft, oder man es ihr erlaubte sich der Minipflege unter der Dusche, zu widmen.
Ihr Körper zuckte zusammen, ein bekanntes Geräusch ertönte, er näherte sich der Tür. Der Klang seiner Schritte schnürte ihr die Luft ab, Lydia wusste, es gab kein Zeichen der Gnade. Sie faltete die Hände zum Gebet. »Bitte lass es mich überleben.«
Kapitel 1
Vor drei Jahren
Sie traf Vorbereitungen für das Mittagessen und arbeitete an ihrem perlmuttfarbenen Küchenblock, der mitten in ihrer großzügigen Küche stand.
»Hallo Mama, ich hab Dich so lieb, wenn ich groß bin, dann heirate ich Dich, meine schöne Mama. Ich bin so müde Mama, ich lege mich, noch was hin«, sagte er, als er in die Küche kam. Am Vorabend hatte sie Gäste und es wurde spät.
»Prima, ich heirate dich auch. Es gibt heute Mittag dein Lieblingsessen, Spagetti Bolognese, ich hol dich gleich mein Bär«, lächelte sie und streichelte seine blonden Haare. Er ging in sein Chaoszimmer und schlief für immer ein.
Was würde sie dafür geben, wenn sie nicht gelächelt hätte, sie sofort mit ihm ins Krankenhaus gefahren wäre? Ihm gesagt hätte, wie sehr sie ihn liebt? Sie hielt sich das gebrochene Herz, dieser Schmerz tötete ihre Seele.
Bilder liefen in ihrem Innern, wie er seine kleinen Hände an ihrer Jeans klammerte, sein herzergreifendes Lachen.
Sie verfluchte Gott: Sie schrie: »Warum?« Doch Gott antwortete nicht. Stunden hielt sie seinen kleinen leblosen Körper fest umklammert, bis die Beamten, ihr das Kind entrissen.
Argwohn erntete sie von Martin und seiner Familie. Sie hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmte, woran? Martin redete kein Wort mehr mit ihr, die Besuche seiner Eltern hörten auf. Dankbar, dass ihre Eltern das nicht mehr miterleben mussten, eine große Narbe in ihrem Gesicht erinnerte noch an den tragischen Unfall, den sie mit vierzehn Jahren überlebte. Das Versprechen, das sie ihrem sterbenden Vater in dem nach Blut und Öl stinkendem Wrack gab, der ihr blutüberströmtes Gesicht umklammerte, wurde eingelöst. Sie lebte weiter.
Zurück blieb der bittere Nachgeschmack der Scheidung, Artus, Luis letztes Geschenk. Artus bedeutet ›Bär‹, der Kosename von Luis, der mit zwei weiteren verhungerten Welpen auf dem Friedhof in der Nähe seines Grabes lag, nur Artus mager, mit großen braunen Augen, filzigem braunen Fell überlebte. Maja beerdigte sie in ihrem kleinen Garten, an einem sonnigen Plätzchen direkt neben einem Brombeerbusch.
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