Nacht der Zaubertiere
weisen
Eindruck noch verstärkte. Sein würdiges Aussehen beeindruckte die Zaubertiere jedesmal von neuem, und die meisten von ihnen begegneten ihm mit Ehrfurcht.
»Diese Werkstatt wurde vor Vater Isaak von einem tückischen Menschen betrieben, der Zauberspielsachen herstellte, um Kinder zu quälen«, fuhr der Alte fort.
Alle Tiere im Raum außer Amos hielten vor Schreck den Atem an.
»Kinder quälen?« fragte Karamel, das Hundemädchen mit der sanften Seele. »Aber das... Das ist doch undenkbar!«
Im Kellergewölbe ging Merkwürdiges vor sich.
Während Rex, die Marionette, den letzten Staub von der Smokingjacke klopfte, wurde das Licht der Deckenlampen allmählich immer heller. In allen Kellerräumen begannen die Zeichen des Alters und der Verwahrlosung zu schwinden. Die dicken Staubschichten auf den Kisten vergingen wie Wasser in der Sommerglut. Die Spinnweben wurden dünn wie ein Hauch und lösten sich dann gänzlich auf. Dort unten in den Gewölben erwachte eine Kraft, und obgleich sie unsichtbar blieb, ließ sie sich an ihrer Wirkung erkennen. Die verblichenen, geplatzten und verschmutzten Holzkisten wirkten wieder wie neu. Die Wörter »Gliederfiguren« und »Spielmaschinen« leuchteten geradezu auf jedem Brett. Und in den Kisten begann es schwach zu rumpeln, zu klopfen, zu kratzen und mit heiseren Stimmen zu wispern.
»Erhebt euch!« rief Rex. »Eure Zeit ist wiederge- kommen!«
Die wispernden Stimmen klangen lauter und kräftiger.
Einige von den eingepackten Spielsachen begannen sich von innen gegen die Deckel ihrer Kisten zu stemmen und zu klopfen und sich genau wie Rex herauszuarbeiten. Nägel quietschten, Holz splitterte und knackte.
Rex kletterte auf die Kiste, die sein Grab gewesen war. Er ballte die hölzernen Fäuste in den weißen Handschuhen, warf die Arme hoch über den Kopf in die Luft und rief: »Erhebt euch! Unsere Zeit ist gekommen! Die Zeit zum Kinderquälen! Die Zeit, Dunkelheit zu verbreiten! Eine herrliche neue Schauerzeit bricht für uns an, voll Angst und Schrecken!«
Aus allen Kisten und Kästen kamen die bösen Spielsachen der früheren Zeiten herausgekrochen. Seitdem Herr Liebmann die Werkstatt von dem bösen Spielzeugmacher übernommen hatte, dem sie seit Anfang des Jahrhunderts gehörte, hatten sie sich hier unten im tiefsten Gewölbe verkrochen und waren in schwarze Träume versunken. Jetzt aber war das Ende der Träume gekommen, und sie waren begierig, ihre Übeltaten oben im Licht und in der Wirklichkeit auszuführen.
Die Stiefelabsätze der Spielzeugsoldaten knallten auf das Kopfsteinpflaster. Ihre gemalten Augen funkelten schwarz und kalt. Die Bajonette auf ihren Gewehren hatten blanke scharfe Spitzen. Die Kühlerroste der Spielzeuglastwagen wirkten wie gebleckte Mäuler voller Reißzähne; ihre Scheinwerfer glotzten wie wachsame Insektenaugen. Der ausge- stopfte Spielzeuglöwe war kein Kuscheltier wie jene zwei Stock höher in Herrn Liebmanns Werkstatt. Dieser hatte den mörderischen Hunger der Raubkatzen.
»Das Karussell dreht sich wieder!« rief Rex, während sich die Spielsachen um ihn zu scharen begannen und zu ihm emporblickten. »Das Gute muß dem Bösen weichen. Unsere Zeit ist wiedergekommen, und wir werden sie nützen!«
»Kinder quälen? Undenkbar! Nicht zu glauben!« wiederholte Karamel und schüttelte den Kopf, daß ihre dunklen Ohren flatterten.
»Die Kräfte des Guten und des Bösen sind immer gegenwärtig auf der Welt«, sagte der Alte und legte einen Finger an sein großes Maul, um die Wichtigkeit seiner Worte zu unterstreichen. »Und manchmal siegt das Böse«, setzte er dumpf hinzu.
Der Alte genoß es, sich in düsteren Prophezeiungen zu ergehen. Diese Rolle spielt er viel zu gut, dachte Amos. Es bestand die Gefahr, daß der Alte die anderen mutlos machte. Amos kletterte rasch von dem Schemel, um sich zu seinen Freunden auf dem Boden zu gesellen.
Der Alte war das älteste Spielzeug von allen — er war genaugenommen das erste Geschöpf, das Herr Liebmann vor Jahrzehnten genäht hatte. Er war nie zum Verkauf angeboten worden, und er war das einzige Zaubertier, das niemals einem Kind dienen sollte. Er war ein großer Gelehrter, und er wußte alles über die Herkunft und die Geschichte der Zaubertiere. Ihm war die Aufgabe zuteil geworden, im Falle des unerwarteten Ablebens des Spielzeugmachers dessen Kenntnisse und alle Einzelheiten des Spielzeugzaubers dem nächsten Spielzeugmacher anzuvertrauen. Der Alte nahm diese Verantwortung
Weitere Kostenlose Bücher