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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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ein menschlicher Schädel wiegt, wenn die Halsmuskeln ihn nicht mehr stabilisieren. Die Gesichtshaut ist blass, wächsern, kühl. Judith entdeckt keine Totenflecken. Behutsam lässt sie den Schädel zurück auf den Schotter gleiten. Ein Schwall lauwarmen Blutes ergießt sich aus dem Mund des Toten über ihre Hand. Sie unterdrückt einen Fluch.
    Â»Seine Lunge muss verletzt sein.« Sie spricht laut, um das Unbehagen zu übertönen, das der unverwandt starre Blick des Toten und die Erinnerung an die rätselhafte Traumbotschaft in ihr auslösen. »Wir brauchen die Spurensicherung, Licht, Abdeckplane oder Zelt, und zwar schnell. Gibst du das durch? Verfluchter Regen.«
    Der Tote trägt keine Jacke, fällt ihr plötzlich auf. Wieder schickt sie den Lichtstrahl über seinen Leib. Das Bahnlogo prangt auf seiner Sweatshirtbrust. Die linke Hand ist unter dem Körper vergraben. Die andere ist zur Faust geballt. Judith tritt hinter den zusammengekrümmten Mann, geht erneut in die Hocke. Hier ist der Stoff seines Sweatshirts dunkel verkrustet. Sie beugt sich näher zu ihm. Risse im Gewebe, links und rechts der Wirbelsäule. Fadendünne Schnitte, fransige Schnitte, kreuz und quer.
    Judith richtet sich auf. »Jemand muss wie von Sinnen auf ihn eingestochen haben. Rücklings. Besser, du rufst auch die Rechtsmedizin.«
    Der Polizeimeister spricht erneut in sein Funkgerät.
    Â»Müller hat Dienst«, sagt er zu Judith, als er fertig ist.
    Sie nickt, leuchtet weiter die Umgebung ab, dann den Führerstand der S-Bahn. Ihr Haar klebt jetzt an ihrem Kopf, der Regen wird dichter, hüllt sie ein. Er ist zu warm für eineJanuarnacht, der ganze Winter ist zu warm, die Nachrichten sind voll davon: Schmelzende Polkappen, steigende Meeresspiegel, Wirbelstürme, Hungersnöte, alles selbst verschuldet, alles menschengemacht. Und trotzdem ist die Nacht zu kalt, um ohne Jacke zur Arbeit zu gehen.
    Wieder leuchtet Judith über den Körper des Toten. Was ist mit der Jacke des S-Bahn-Fahrers passiert? Hat er sie ausgezogen, bevor er ermordet wurde? Hat der Täter sie ihm weggenommen, und wenn ja, warum? Die Nase des Toten ist zu groß, der Mund zu klein, das hellbraune Haar wird am Hinterkopf licht. Sie sieht ihn vor sich, wie er an der Bahn entlang durch den Schotter schlurft, vom hinteren zum vorderen Triebwagen, ein müder Mann mit gekrümmten Schultern, der nichts auf Sport und Haltung gibt. Die Schnürsenkel seiner Schuhe sind aufgebunden, registriert sie auf einmal. Wollte er sie ausziehen, in seiner letzten Pause, mitten auf den Gleisen? Wohl kaum.
    Â»Von wo ist der Täter gekommen?«, fragt der Polizeimeister.
    Â»Vielleicht war er in der Bahn. Wir brauchen jemanden von den Verkehrsbetrieben, mit etwas Glück gibt es da drin Kameras.« Judith schickt den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über die S-Bahn-Waggons. Sie sehen alt aus. Verdreckt. Hat der Tote eine Frau? Kinder? Er trägt keinen Ehering, jedenfalls nicht an der rechten Hand.
    Â»Warte hier und lass KOK Korzilius rufen«, sagt sie zu dem Polizeimeister. »Ich red jetzt mit dem Zeugen.«
    Der Wind nimmt zu und peitscht ihr Nässe ins Gesicht. Der Weg zurück zur Haltestelle über die Gleise ist zu einsichtig, als dass der Täter ihn gewählt haben dürfte, auch wenn hier um diese Tageszeit absolut niemand wach oder unterwegs zu sein scheint. Auf dem Bahnsteig stehen jetzt die Spurensicherer bereit, die Gesichter grünlich blass vom trüben Neonlicht. Sie hören sich an, was Judith berichtet, und schwärmen dann über die Bahngleise aus, wie eine Spezies flügelloser weißer Käfer.
    Judith streicht sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesieht.Es läuft gut, hat Millstätt, ihr Chef, gestern gesagt, als er sie zur Bereitschaft einteilte. Die Kollegen betrachten dich als rehabilitiert. Es ist genau das, worum sie gekämpft hat, nach ihrer Krise, der Auszeit und der Rückkehr, aber ist es auch das, was sie will? Ja, denkt sie, ja, verdammt, das ist es. Hör endlich mit dem Zweifeln auf. Judith strafft die Schultern, blickt durch den Regen hinüber zum Tatort. Sie hat dort drüben eine Gefahr gespürt, die sie noch nicht benennen kann. Als ob sich hinter den offensichtlichen Fakten dieses Verbrechens noch eine dunklere, kältere Wahrheit verbirgt.
    Â»Hauptkommissarin Krieger?« Die Streifenbeamtin mit dem straff gebundenen

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