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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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hatte er als Abnormität in einem Wanderzirkus gearbeitet, der regelmäßig die Staaten Alabama, Mississippi und Georgia abklapperte. Niles war damals ziemlich pleite gewesen. Er erinnerte sich, wie er den Job bekommen hatte: indem er dem Zirkuschef Löcher in den Bauch bettelte, um sein Talent beweisen zu dürfen. »Lesen Sie mir irgend etwas vor – irgend etwas! Ich kann mich daran erinnern!« Der Boß war skeptisch geblieben und sah auch keine Möglichkeit, mit diesem Trick Geld zu verdienen, aber schließlich gab er Niles eine Chance, als dieser wegen Unterernährung in seinem Büro praktisch ohnmächtig wurde. Der Boß las ihm aus einer Wochenschrift aus Mississippi vor, und als er fertig war, rezitierte Niles es wortgetreu. Er bekam den Job, für fünfzehn Dollar die Woche plus Essen, und saß von da an in einer kleinen Hütte unter dem Schild: Das menschliche Tonbandgerät. Die Leute sagten oder lasen ihm Sachen vor, und er wiederholte sie für sie. Es war eine deprimierende Arbeit; manchmal sagte man schmutzige Dinge zu ihm, und meist konnten die Leute sich eine Minute später schon selbst nicht mehr an ihr Gesagtes erinnern. Vier Wochen blieb er bei dem Zirkus, und als er ging, vermißte ihn niemand.
    Der Bus fuhr weiter durch die Nacht, die neblig zu werden versprach.
    Er hatte andere Jobs gehabt, gute Jobs, aber keiner hatte sehr lange vorgehalten. Er hatte auch Mädchen gekannt, aber auch diese Beziehungen waren nicht von langer Dauer. Sie hatten alle – selbst die, vor denen er es verbergen wollte – sehr bald seine besondere Fähigkeit herausgefunden und ihn kurz darauf verlassen. Niemand konnte es bei einem Mann aushalten, der niemals etwas vergaß, der die Schwächen, die man gestern zugegeben hatte, jederzeit aus dem See der Erinnerungen in seinem Kopf herausfischen konnte. Der Mann mit dem perfekten Gedächtnis konnte nicht lange unter den unvollkommenen Menschen leben.
    Vergeben bedeutet Vergessen, dachte er. Die Erinnerung an alte Beleidigungen und alten Streit verblaßt, eine Beziehung kann neu aufgebaut werden. Aber für ihn gab es kein Vergessen und somit auch nur wenig Vergeben.
    Nach einer Weile schloß er die Augen und lehnte sich gegen das harte Lederkissen seines Sitzes zurück. Das stetige Rumpeln des Busses lullte ihn ein. Im Schlaf konnte er ausruhen, fand er Erholung von seiner Erinnerung.
     
    In Salt Lake City zahlte er sein Fahrgeld, verließ mit dem Koffer in der Hand den Bus und ging in die erstbeste Richtung, die er vor sich sah. Mit diesem Bus wollte er nicht weiter nach Osten. Seine Bargeldreserve betrug nur noch dreiundsechzig Dollar, und er mußte damit noch länger auskommen.
    Er fand einen Job als Tellerwäscher in einem Restaurant in der Innenstadt, hielt lange genug durch, um einhundert Dollar anzusammeln und zog weiter, diesmal per Anhalter nach Cheyenne. Dort blieb er wieder für einen Monat, fuhr dann mit dem Nachtbus nach Denver; Denver verließ er dann in Richtung Wichita.
    Von Wichita nach Des Moines, von Des Moines nach Minneapolis, von Minneapolis nach Milwaukee, dann durch Illinois, sorgfältig darauf bedacht, Chicago zu meiden, bis nach Indianapolis. Niedergeschlagen feierte er allein in Indianapolis seinen neunundzwanzigsten Geburtstag. Er saß in seinem Zimmer in einer Pension, draußen war ein regnerischer Oktobertag. Um diesen Tag etwas freundlicher zu gestalten, holte er die Erinnerung an seine vierte Geburtstagsfeier im Jahre 1933 hervor, an einen der wenigen uneingeschränkt glücklichen Tage seines Lebens.
    Sie waren alle gekommen, seine Spielkameraden, seine Eltern, sein Bruder Hank, der sich mit seinen acht Jahren schon reichlich wichtig vorkam, und seine Schwester Marian. Sie hatten Kerzen und Geschenke und Punsch und Kuchen gebracht. Mrs. Heinersohn von nebenan kam vorbei und sagte: »Er sieht aus wie ein kleiner Mann«, und seine Eltern strahlten ihn an, und alle sangen und amüsierten sich. Danach, als das letzte Spiel gespielt worden war, das letzte Geschenk geöffnet, als die Mädchen und Jungen sich verabschiedet hatten und auf der Straße verschwunden waren, hatten sich die Erwachsenen zusammengesetzt und über den neuen Präsidenten gesprochen und die vielen seltsamen Dinge, die so im Land geschahen. Der kleine Tommy saß mitten unter ihnen und zeichnete alles wortgetreu auf. Er war tief glücklich an diesem Tag, denn den ganzen Nachmittag hindurch hatte niemand etwas Grausames zu ihm gesagt oder ihm angetan. An diesem Tag war er

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