Nacht über der Menschheit
Der Mann mit dem Computergehirn
Er entdeckte das Mädchen, während sie in einer Menschenschlange vor einem großen Los-Angeles-Filmtheater wartete, an einem leicht nebligen Dienstagmorgen. Sie war schmächtig und blaß, kaum einen Meter sechzig groß, mit langem, flachsfarbenen Haar. Und sie war allein. Natürlich erinnerte er sich an sie.
Ihm war klar, daß es ein Fehler sein würde, aber er überquerte die Straße trotzdem und ging die Besucherschlange entlang zu ihr.
»Hallo«, sagte er.
Sie wandte sich um, starrte ihn ausdruckslos an; einen kurzen Augenblick huschte ihre Zungenspitze über ihre Lippen. »Ich glaube nicht, daß ich ...«
»Tom Niles«, sagte er. »Pasadena, Neujahrstag 1955. Sie saßen neben mir. Ohio State gegen Southern Cal, 20 zu 7. Sie erinnern sich nicht?«
»Ein Football-Spiel? Aber ich gehe kaum ... ich meine ... Tut mir leid, Mister. Ich ...«
Jemand aus der Besucherschlange kam mit einem finsteren Gesicht auf ihn zu. Niles wußte, wann er geschlagen war. Er lächelte entschuldigend und sagte: »Es tut mir leid, Miß. Ich schätze, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hielt Sie für jemanden, den ich kannte ... eine Miß Bette Torrance. Entschuldigen Sie.«
Dann ging er schnell davon. Er war noch keine fünf Meter weit weg, als er ihr überraschtes Luftschnappen und »Aber ich bin Bette Torrance!« hörte – doch er ging weiter.
Ich sollte es nach achtundzwanzig Jahren besser wissen, dachte er bitter. Aber ich vergesse die grundlegendste Tatsache: daß, wenn ich mich an Menschen erinnere, sie sich nicht zwangsläufig an mich erinnern ...
Erschöpft ging er bis zur nächsten Ecke, wandte sich nach rechts, ging eine neue Straße hinunter, eine, in der ihm nicht ein Geschäft vertraut vorkam und die er demzufolge nie vorher gesehen hatte. Sein Gehirn, durch den Vorfall vor dem Filmtheater angeregt, warf eine Menge Tangential-Erinnerungen aus. Es funktionierte ausgezeichnet, wie immer:
1. Jan. 1955, Rose Bowl, Pasadena, Kalifornien, Sitz G 126; ein warmer Tag, hohe Luftfeuchtigkeit, Ankunft im Stadion 12 Uhr 30. Kam allein. Das Mädchen im Nachbarsitz trug ein blaues Baumwollkleid, weiße Sportschuhe, trug den Wimpel von Southern Cal. Sprach mit ihr. Ihr Name war Bette Torrance, Abschlußsemester an der Southern Cal-Universität. War für dieses Spiel verabredet, aber er mußte am Abend vorher mit Grippe-Anzeichen ins Bett, bestand darauf, daß sie sich das Spiel trotzdem ansieht. Der Sitz rechts von ihr war leer. Kaufte ihr einen Hot dog, zwanzig Cents (ohne Senf) ...
Immer mehr Informationen kamen hoch. Niles verdrängte sie wieder. Es war praktisch ein stenografischer Bericht über ihre Unterhaltung an jenem Tage:
(»... ich hoffe, wir gewinnen. Das letzte Spiel in der Bowl, das ich sah, das wir gewannen, war vor zwei Jahren ...«
»... Ja, das war 1953. Southern Cal gegen Wisconsin, 7 zu 0 ... und zwei Siege hintereinander 1944 und 1945 gegen Washington und Tennessee ...«
»... Mein Gott, Sie kennen sich aber im Football aus. Wie haben Sie das gemacht? Listen geführt?«)
Und all die alten Erinnerungen. Der höhnische Schrei des sommersprossigen Joe Merritt an jenem warmen April-Tag 1937: Wer bist du denn – Einstein? Und Buddy Call sagte am 8. November 1939: Hier kommt Tommy Niles, die menschliche Rechenmaschine. Packt ihn! Und dann der grelle, stechende Schmerz von einem Schneeball, der ihn genau unter seinem linken Schlüsselbein traf – ein Schmerz, den er so leicht abrufen konnte wie alle anderen Erinnerungen an Schmerzen, die er mit sich herumtrug. Er blinzelte und schloß plötzlich die Augen, so, als träfe ihn die Eiskugel hier auf der Straße in Los Angeles an einem nebligen Dienstagmorgen.
Heute nannte man ihn nicht mehr die menschliche Rechenmaschine. Jetzt war er das menschliche Tonbandgerät; die höhnischen Bezeichnungen mußten mit den vergehenden Jahrzehnten Schritt halten. Nur Niles änderte sich nicht mehr. Der Junge-mit-dem-Gehirn-wie-ein-Schwamm war zu dem Mann-mit-dem-Gehirn-wie-ein-Schwamm herangewachsen, immer noch verflucht mit der gleichen schrecklichen Gabe.
Sein mit Daten überfütterter Kopf tat ihm weh. Er sah einen kleinen gelben Sportwagen, der auf der anderen Straßenseite parkte, erkannte ihn vom Aussehen, dem Modell, der Farbe und der Zulassungsnummer her als den Wagen von Leslie F. Marshall, sechsundzwanzig, blondes Haar, blaue Augen, Fernsehschauspieler mit folgenden Eigenschaften ...
Blinzelnd unterbrach Niles den
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