Nacht unter Tag
Geschehens in der Klinik einfach so weitermachte wie immer. Sie hatte nie daran gedacht, nachzuzählen, weil sie sich nie zu glauben erlaubte, es könnte das letzte Mal sein. Seit die Ärzte ihr den Grund für Lukes deformierte Daumen und die milchkaffeebraunen Flecken auf seinem schmalen Rücken erklärt hatten, verbiss sie sich in die Überzeugung, sie werde ihrem Sohn irgendwie helfen, dem Angriff auszuweichen, mit dem seine Gene sein Leben bedrohten. Jetzt aber sah es so aus, als werde diese Überzeugung einer vernichtenden Überprüfung unterzogen.
Misha stand einen Moment unentschlossen und ärgerlich über das sonnige Wetter da, denn sie wünschte sich einen Himmel, der so trüb war wie ihre Stimmung. Sie wollte noch nicht nach Haus. Am liebsten hätte sie geschrien und mit irgendetwas um sich geworfen, und eine leere Wohnung hätte sie nur in Versuchung gebracht, die Beherrschung völlig zu verlieren und genau das zu tun. John würde nicht da sein, um sie in den Arm zu nehmen oder zurückzuhalten. Er hatte gewusst, dass sie mit dem Arzt sprechen würde, und deshalb war natürlich bei der Arbeit eine unüberwindliche Schwierigkeit aufgetreten, die nur er lösen konnte.
Statt durch Marchmont zu ihrer Mietwohnung in dem Sandsteinbau zurückzukehren, überquerte Misha die belebte Straße zu den Meadows, der grünen Lunge der südlichen Stadtmitte, wo sie immer so gern mit Luke spazieren gegangen war. Als sie einmal mit Google Earth auf ihre Straße hinuntergeschaut hatte, hatte sie sich auch den Park angesehen. Aus dem Weltraum sah er wie ein mit Bäumen umsäumter Rugbyball aus, der von den Wegen wie mit Riemen zusammengehalten wurde. Sie hatte bei dem Gedanken, dass sie und Luke auf der Oberfläche wie krabbelnde Ameisen aussahen, gelächelt. Heute gab es kein Lächeln mehr, das Misha hätte trösten können. Heute musste sie sich der Tatsache stellen, dass sie vielleicht nie wieder mit Luke hier spazieren gehen würde.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die wehleidigen Gedanken zu vertreiben. Sie brauchte einen Kaffee, um sich zu sammeln und die Dinge im richtigen Rahmen zu sehen. Sie würde einen raschen Spaziergang durch den Park und zur Georg- IV .-Brücke hinunter machen, wo heutzutage hinter jedem Fenster eine Bar, ein Café oder ein Restaurant war.
Zehn Minuten später saß Misha in einer Ecknische mit einem tröstlichen Caffè Latte vor sich. Es war noch nicht das Ende, konnte nicht das Ende sein. Sie würde nicht zulassen, dass es das Ende war. Auf irgendeine Weise musste es für Luke noch eine Chance geben.
Als sie ihn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Obwohl sie von Medikamenten benommen und von den Wehen noch geschwächt war, hatte sie es gewusst. John hatte es geleugnet und dem niedrigen Geburtsgewicht ihres Sohnes sowie den kleinen stumpfartigen Daumen keine Beachtung geschenkt. Aber die Angst hatte Mishas Herz mit kalter Gewissheit umklammert. Luke war anders. Die einzige Frage war für sie, wie anders er war.
Als einigermaßen glücklichen Umstand konnten sie allein die Tatsache betrachten, dass sie in Edinburgh nur zehn Minuten zu Fuß vom Royal Hospital for Sick Children entfernt wohnten, einer Einrichtung, die in der Boulevardpresse regelmäßig unter den so beliebten Geschichten über »Wunder« erschien. Es dauerte nicht lange, bis die Fachärzte des Kinderkrankenhauses das Problem erkannt, aber auch erklärt hatten, dass es für sie keine Wunder geben würde.
Fanconi-Anämie. Wenn man es schnell aussprach, klang es wie ein italienischer Tenor oder eine Stadt auf den Hügeln der Toskana. Aber hinter der reizvollen Musikalität der Worte verbarg sich eine tödliche Botschaft. In der DNA von Lukes beiden Elternteilen gab es versteckte rezessive Gene, die sich verbunden, eine seltene Erkrankung ausgelöst und ihren Sohn zu einem kurzen Leben voller Schmerzen verdammt hatten. Irgendwann im Alter zwischen drei und zwölf Jahren würde er mit größter Wahrscheinlichkeit eine aplastische Anämie entwickeln, eine Rückbildung des Knochenmarks, die sein Todesurteil bedeutete, wenn kein geeigneter Spender gefunden werden konnte. Das schonungslose Urteil lautete, dass Luke ohne eine erfolgreiche Knochenmarkstransplantation nur im glücklichsten Fall älter als zwanzig Jahre werden würde.
Diese Auskunft erfüllte sie mit einer Mission. Bald erfuhr sie, dass für Luke als Einzelkind die beste Chance einer erfolgreichen Therapie in
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