Nacht unter Tag
Freund. Andy Kerr. Er war ein strammer Kommunist, der Andy. Ich sag dir, 1984 gab es nicht mehr viele, die noch die rote Fahne hochgehalten haben, aber Andy gehörte dazu. Er war schon lange vor dem Streik Gewerkschaftsfunktionär. Er und dein Vater waren schon seit der Schule beste Freunde.« Ihr Gesichtsausdruck wurde für einen Moment etwas weicher und ließ Misha fast die junge Frau erkennen, die sie einmal gewesen sein musste. »Die hatten immer was vor, die beiden.«
»Und wo kann ich diesen Andy Kerr finden?« Misha saß ihrer Mutter gegenüber und hatte ihr Vorhaben zu gehen vorübergehend aufgegeben.
Das Gesicht ihrer Mutter verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Der arme Kerl. Wenn du Andy findest, bist du wirklich ein guter Detektiv.« Sie beugte sich vor und tätschelte Mishas Hand. »Er gehört auch zu den Opfern deines Vaters.«
»Wie meinst du das?«
»Andy hat deinen Vater bewundert. Er hielt große Stücke auf ihn. Der arme Andy. Der Streik hat ihn furchtbar in die Klemme gebracht. Er glaubte an den Streik und an den Kampf. Aber es brach ihm das Herz, mit ansehen zu müssen, welche Not seine Männer zu ertragen hatten. Er war am Rande eines Nervenzusammenbruchs, und der leitende Funktionär hier am Ort zwang ihn, kurz bevor dein Vater sich aus dem Staub machte, sich krankzumelden. Danach hat ihn nie wieder jemand gesehen. Er hat irgendwo draußen in der Pampa gelebt, deshalb hat niemand bemerkt, dass er fort war.« Sie stieß einen langen müden Seufzer aus. »Er hat deinem Vater eine Postkarte von irgendwo oben im Norden geschickt. Aber der war natürlich schon als Streikbrecher unterwegs und hat sie nie bekommen. Als Andy später zurückkehrte, hinterließ er einen Brief für seine Schwester, in dem er schrieb, er könne es nicht mehr aushalten. Hat sich umgebracht, der arme Kerl.«
»Was hat das mit meinem Vater zu tun?«, fragte Misha.
»Ich hab immer gedacht, als dein Dad damals zum Streikbrecher wurde, das hat das Fass zum Überlaufen gebracht.« Jennys andächtiger Gesichtsausdruck grenzte an Selbstzufriedenheit. »Das hat Andy den Rest gegeben.«
»Das weißt du doch gar nicht genau.« Misha wich empört zurück.
»Ich bin nicht die Einzige hier, die das glaubt. Wenn dein Vater sich jemandem anvertraut hätte, dann wäre es Andy gewesen. Und das wäre eine zu schwere Last für seine arme zarte Seele gewesen. Er hat sich das Leben genommen und wusste, dass sein einziger wirklicher Freund alles verraten hatte, wofür er stand.« Mit dieser melodramatischen Feststellung stand Jenny auf und nahm einen Beutel Karotten aus dem Gemüsefach. Es war klar, dass sie zu dem Thema Mick Prentice alles gesagt hatte.
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Mittwoch, 27. Juni 2007,
Glenrothes
K aren sah verstohlen auf ihre Uhr. Welche guten Eigenschaften Misha Gibson auch haben mochte, sich kurz zu fassen gehörte nicht dazu. »Andy Kerr erwies sich also wortwörtlich als totes Ende?«
»Meine Mutter glaubt das. Aber anscheinend ist seine Leiche nie gefunden worden. Vielleicht hat er sich doch nicht umgebracht«, sagte Misha.
»Sie tauchen nicht immer wieder auf«, meinte Karen. »Manchmal holt sie das Meer. Oder die Wildnis. Es gibt noch viele unbewohnte Flächen in diesem Land.« Resignation verbreitete sich auf Mishas Gesicht. Karen hielt sie für eine Frau, die wohl fast alles glaubte, was man ihr erzählte. Wenn irgendjemand das wusste, dann war es ihre Mutter. Vielleicht waren die Dinge nicht ganz so klar, wie Jenny Prentice ihre Tochter glauben machen wollte.
»Das stimmt«, gab Misha zu. »Und meine Mutter hat gesagt, er hätte einen Brief hinterlassen. Hat die Polizei den wohl noch?«
Karen schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Wenn wir ihn überhaupt jemals hatten, ist er wahrscheinlich an seine Familie zurückgegeben worden.«
»Hätte es eine gerichtliche Untersuchung gegeben? Ob man ihn dazu vielleicht gebraucht hätte?«
»Sie meinen die Untersuchung eines tödlichen Unfalls«, stellte Karen klar. »Nicht ohne Leiche, nein. Wenn es überhaupt Unterlagen gibt, dann eine Vermisstenakte.«
»Aber er ist doch nicht vermisst. Seine Schwester hat ihn für tot erklären lassen. Ihre Eltern sind beide bei dem Fährunglück bei Zeebrügge umgekommen. Anscheinend hatte ihr Vater sich immer geweigert zu glauben, dass Andy tot sei, deshalb hatte er sein Testament nicht so geändert, dass die Schwester das Haus erhielt. Sie musste vor Gericht gehen und Andy für tot erklären lassen, damit sie das Erbe antreten
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