Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
zur kleinen Ella auf ihrem Arm, die zu wimmern anfing. »Gleich sind wir in Sicherheit.«
    Schon waren sie im Gedränge bis auf die ersten Treppenstufen vorgerückt, der dunkle Schlund der Bethnal Green Station tat sich vor ihnen auf. An der Decke baumelte eine einzige Glühbirne, die das Dunkel nur spärlich aufhellte. Eric kannte diese Stufen wie seine eigene Haustreppe. Er brauchte kein Licht. Während des German Blitz waren sie hier jede Nacht hinabgestiegen.
    Die Treppe war überfüllt, es stockte vor ihnen. Er drehte sich noch einmal um und sah nach draußen in den Regen. Aus dem nahe gelegenen Kino strömte eine Menschenmenge, der Film war wohl unterbrochen worden durch den Alarm. Ein Betrunkener verließ schweren Schritts das Pub auf der anderen Straßenseite, das Salmon and Ball . Vom Kiosk, wo es gebackene Kartoffeln gab, rannten Schutzsuchende zur Bethnal Green Station.
    Dann brach ein Fauchen los am Himmel, ein Kreischen und Jaulen. Helles Licht zerplatzte und spritzte jäh über das Firmament. Wer noch auf der Straße war, warf sich zu Boden. »Hitlers neue Waffe!«, schrie jemand. Die Leute rappelten sich auf und rannten auf den Eingang zu, von überall her stoben sie heran.
    Er versuchte, die Umstehenden zu beruhigen: »Das ist unsere Waffe. Das ist nichts von Hitler. Wir haben sie bisher geheim gehalten, es sind Raketen, Massen von Raketen, die zugleich in den Himmel geschossen werden und dort explodieren. Die machen den Deutschen die Hölle heiß.«
    Aber niemand hörte auf ihn, die Leute schoben und schubsten aus Angst vor Hitlers neuer Waffe, sie trauten dem Diktator mehr zu als Churchill. Bethnal Green sollte sie vor der neuen Wunderwaffe beschützen.
    »Bitte, wir passen alle hinein«, sagte Eric zu denen, die sich an ihm vorbeidrängen wollten. »Bleiben Sie ruhig!« Immer stärker wurde der Druck von hinten, sie wurden die Stufen hinuntergeschoben und gegen die Rücken der Leute vor ihnen gedrückt. Die Angst machte die Menschen rücksichtslos. Vor seinem inneren Auge sah er die Lage schon eskalieren. »Zur Seite«, sagte er, »Connie, wir müssen zum Geländer!«
    Er ließ den Koffer und die Decken los. Die Menschenmenge trieb Connie und ihn auseinander, er griff nach ihrem Arm, aber jemand zwängte sich zwischen sie, und dann noch jemand, sie wurden fortgespült zu entgegengesetzten Seiten der Treppe. Er versuchte zu seiner Frau zu gelangen, wurde jedoch von einer gewaltigen Kraft zurückgestoßen. Er rief: »Geh zur anderen Seite, Connie, nur rasch zum Geländer!« Noch hielt sie die kleine Ella tapfer auf dem Arm.
    Da passierte genau das, was er befürchtet hatte. Der Druck der Nachrückenden wurde zu stark. Die Ersten gerieten ins Stolpern, sie fielen die Treppe hinunter, auf andere drauf, stießen sie nieder, und während die Unteren um Luft keuchten, rutschte die Lawine weiter, wuchs und wuchs.
    Er wurde gegen das Geländer gedrückt, die Betonwand quetschte ihn. Eilig setzte er Tony ab und nahm ihn zwischen seine Beine, versuchte ihn zu schützen. Er hielt sich fest, um nicht zu fallen und überrannt zu werden.
    Um ihn herum ächzten Menschen, wurden von ihren Freunden erdrückt und von den Nachbarn niedergetrampelt, sie hatten nicht einmal genug Luft in den Lungen, um zu schreien. Hände streckten sich in die Höhe von weiter unten, Vergrabene suchten nach Halt, konnten aber nicht verhindern, dass die Nachrückenden über sie hinwegrutschten. Tony stiegen Tränen in die Augen, er schien in der Enge kaum noch atmen zu können.
    Dann war es vorüber, plötzlich. Der Druck von hinten ließ nach. Die nicht zu Tode getrampelt worden waren, richteten sich stöhnend auf. Sie hielten sich gebrochene Rippen, zerschundene Knie. Auf der Treppe lag ein Berg von Toten. Von allen Seiten wurden mit banger Stimme Namen gerufen.
    Er hob seinen Sohn hoch, der von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. »Tut dir etwas weh?«, fragte er ihn.
    »Mama …«, schluchzte Tony nur.
    »Wir werden sie finden.« Auf dieser Höhe der Treppe konnte er nicht zur anderen Seite gelangen, ohne über etliche Körper zu trampeln. Also stieg er stattdessen in Richtung des Ausgangs hinauf. Luftschutzleiter übernahmen oben das Kommando und schickten die Neuankömmlinge weg, er hörte ihre festen Stimmen: »Der Bunker ist überfüllt. Gehen Sie bitte weiter.« Dazu knallten draußen die Explosionen der Bomben.
    Er konnte Connie nirgendwo entdecken. Eric rief ihren Namen immer und immer wieder, noch hoffte er, dass sie sich hatte

Weitere Kostenlose Bücher