Die Täuschung
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IRGENDWO IN DER MITUMBA - GEBIRGSKETTE VON ZENTRALAFRIKA , SEPTEMBER 2024
B ei Tagesanbruch brechen wir auf, darum muss ich schnell schreiben. Alle Meldungen deuten darauf hin, dass meine Verfolger mir mittlerweile dicht auf den Fersen sind: Dieselben Späher, die in den letzten beiden Tagen von einem Phantomluftschiff berichtet haben, das in stetigem Tempo von Nordosten komme und dabei den Erdboden in Brand setze, behaupten jetzt, sie hätten das Gefährt in der Nähe des Albert-Sees gesichtet. Häuptling Dugumbe, der mich bei sich aufgenommen hat, besteht nun endlich nicht mehr darauf, dass ich mit Hilfe seiner Krieger den Kampf aufnehme, und bietet mir stattdessen eine Eskorte von fünfzig Männern an, die mir bei meiner Flucht den Rücken decken sollen. Obwohl ich ihm dankbar bin, habe ich ihm gesagt, dass eine so große Gruppe zu auffällig wäre. Ich werde nur meinen guten Freund Mutesa mitnehmen, den Mann, der mich damals, als ich völlig erschöpft war, aus dem Hochlanddschungel geschleppt hat; außerdem zwei oder drei andere, die mit einigen der besseren französischen oder amerikanischen automatischen Waffen ausgerüstet sind. Wir werden uns auf direktem Weg zur Küste begeben, wo ich eine Überfahrt zu einem Ort zu finden hoffe, der noch abgelegener ist als diese Berge.
Es kommt mir vor, als wäre es schon Jahre her, dass mich das Schicksal zu Dugumbes Stamm verschlagen hat, obwohl in Wirklichkeit erst neun Monate vergangen sind; aber die Wirklichkeit hat für mich ohnehin keine große Bedeutung mehr. Ursprünglich war es der Wunsch, ihr diese Bedeutung wiederzugeben, der mich veranlasst hat, diesen Ort als Versteck zu wählen, diesen abgelegenen, schönen Winkel Afrikas, der seit Urzeiten von Stammeskriegen heimgesucht wird. Damals schien mir die Brutalität solcher Konflikte zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass der alte Groll, der sie stets aufs Neue nährte, nur mündlich von einer Generation zur nächsten weitergereicht worden war. Ich dachte, an diesem Ort könnte ich wenigstens ansatzweise sicher sein, dass das Verhalten der Menschen um mich herum nicht von den unsichtbaren Händen jener manipuliert wurde, die die wundersamen, aber auch finsteren Technologien unseres »Informationszeitalters« beherrschen und damit die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Realität und einer erschreckenden Welt, in der man weder seinen Augen und Ohren noch seinem Herzen trauen kann, ausgelöscht haben.
Hier gibt es keine Zeitungen, keine Fernsehgeräte und vor allem keine Computer, also auch nicht das verdammte Internet. Dugumbe verbietet das alles. Seine Erklärung für diesen Standpunkt ist simpel, aber darum nicht weniger tiefgründig: Information, behauptet er beharrlich, sei nicht Wissen. Die Lehren, die von den Ältesten überliefert und von den Klügsten unter ihnen vermittelt, aber nur im Gedächtnis aufgezeichnet werden, diese Lehren, so hat Dugumbe immer gesagt, seien wahres Wissen. Die erwähnten Medien könnten den Menschen nur von solcher Weisheit ablenken und ihn zum Sklaven des laut Dugumbe »Schlimmsten aller Teufel« machen: der Verwirrung. Es gab eine Zeit, in der ich – ein Mann des westlichen Denkens, Träger nicht nur eines, sondern zweier Doktortitel – geringschätzig über solche Überzeugungen gelacht hätte; und wahrhaftig, seit ich hier bin, beunruhigen mich die Gesetze und Gebräuche dieser Menschen in zunehmendem Maße. Trotzdem stelle ich fest, dass ich mich in einer Welt, die mit bewusst verzerrten Informationen voll gestopft ist, mit zurechtfabrizierten »Wahrheiten«, die viel größere Konflikte als Dugumbes Stammeskriege entfacht haben, noch fester an den Kern der Weltanschauung des alten Königs klammere als dieser selbst.
Da – ich habe es gerade gehört. Weit entfernt, aber unverkennbar: das Donnergrollen, das ihr Herannahen ankündigt. Bald kommt es aus dem Himmel herab, dieses gespenstische Schiff; vielleicht steigt es auch aus den Fluten des Albert-Sees empor. Und dann geht die Erde erneut in Flammen auf, vor allem, wenn Dugumbe dem ungewöhnlichen Geschwisterpaar, welches das Schiff befehligt, gewaltsamen Widerstand entgegenzusetzen versucht. Ja, die Zeit wird knapp, und ich muss schneller schreiben – obwohl mir nicht so recht klar ist, welchen Zweck ich damit verfolge. Tue ich es, um nicht den Verstand zu verlieren, um mich zu vergewissern, dass all dies wirklich geschehen ist? Oder geht es um mehr, vielleicht um die Erstellung eines
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