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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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sie zu fassen, weil sie zu unregelmäßigen Zeiten funkte und von abgelegenen Orten. Ein festes Versteck mit schwerem Gerät wäre da hinderlich. Was, wenn die Deutsche nur ein kleines Funkgerät mit Batteriebetrieb besaß, eines, dessen Sendeleistung es nicht erlaubte, bis ins Großdeutsche Reich zu funken? Was, wenn sie zu einem Flugzeug hinauffunkte? Im Schutz der Bomberschwadron mochte eine Heinkel der Abwehr mitfliegen und ihren Funkspruch aufzeichnen oder ihr neue Anweisungen geben.
    Eric fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Wenn er mit seinen Vermutungen richtiglag, bedeutete das nichts anderes, als dass Nachtauge genau in diesem Augenblick funkte. Mitten im Bombenangriff, wenn kein Peiltrupp unterwegs war.

2
    Er rannte durch den Qualm zur U-Bahn-Station Wapping und hastete die Treppen hinab. In der Mitte des Bahnsteigs kauerten Hunderte Menschen. Ein schmaler Rand war an den Seiten geblieben für die Ein- und Aussteigenden. Von Rotherhithe würde keine Bahn kommen, während des Bombenalarms fuhren sie nie unter der Themse hindurch. Also konnte er gleich ans Gegengleis gehen, die Bahn würde zwischen Wapping und Hammersmith pendeln. Der Gedanke, dass die deutsche Agentin womöglich in diesem Moment am Funkgerät saß, ließ ihm keine Ruhe.
    Ratten huschten über die Gleise. Die Schienen zirpten. Dann ratterte die U-Bahn mit den drei trüben Scheinwerferaugen in den Bahnhof ein. Er betätigte den Öffnungsknopf an einer der Schiebetüren, und mit einem lauten Zischen öffnete sie sich. Er sah am Zug entlang: Nur wenige Fahrgäste stiegen aus oder ein.
    Das verängstigte Tuscheln der U-Bahn-Reisenden, das Kreischen des Waggons in den Schienen und das dumpfe Grollen der Bomben reizten seine Nerven noch mehr. Wenn er diese verflixte Bahn doch beschleunigen könnte! Bei jedem Halt hatte er das Gefühl, sie stünde übertrieben lang da und warte, ob nicht doch noch jemand zusteigen wolle. In der Wood Lane stieg er aus, sprintete den Bahnsteig entlang und erklomm die Treppe in wenigen Sprüngen.
    Erleichtert nahm er wahr, dass das Dröhnen der Bomber nicht nachgelassen hatte.
    Das ehemalige Gefängnis Wormwood Scrubs stand unversehrt. Das lang gestreckte Areal von Ziegelgebäuden hinter der hohen Gefängnismauer war zu Beginn des Krieges geräumt worden, um den wachsenden Bedarf des MI 5 an abhörsicheren Büros zu erfüllen. Eric zeigte dem Pförtner seinen Ausweis und stürmte den langen Flur der Abteilung B, Spio nageabwehr, hinunter. Trotz des Bombenangriffs saßen in eini gen Zellen Kollegen und arbeiteten, die Türen sperrangelweit geöffnet. Oft genug war es vorgekommen, dass eine unbedachte Bewegung eine Tür hatte zufallen lassen, und da die Türen innen keine Klinken besaßen, wie es sich für ein Gefängnis gehörte, ließ man sie bewusst weit offen stehen, um nicht versehentlich eingeschlossen zu werden. Manche hoben den Kopf, um zu sehen, wer es da so eilig hatte. Er erwiderte keinen Blick und keinen Gruß. Erst bei den Funkern blieb er stehen. Ziemlich außer Atem sagte er: »Ich brauche einen Peiltrupp, und zwar sofort.«
    »Während des Bombenangriffs? Sind Sie verrückt?«, widersprach Sprigings. »Sie können froh sein, dass ich nicht in den Luftschutz gegangen bin, Knowlden, ich müsste gar nicht hier sein. Raus geh ich auf keinen Fall.«
    »Wir können die Deutsche fangen. Sie funkt gerade.«
    Sprigings wusste sofort, von wem er sprach. Sein beleibter Körper erstarrte. »Woher wissen Sie das?«
    »Alarmieren Sie so viele Peiltrupps, wie Sie können. Während sich die Jungs bereit machen, können Sie die Fernpeilstationen anfunken.«
    »Aber wir wissen doch gar nicht, auf welcher Frequenz Nachtauge sendet! Das ist wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.«
    »Fangen Sie endlich an!«
    Mit hochrotem Kopf legte Sprigings los. Er rief einige Namen in den Flur, und als auf manchen Aufruf keine Antwort kam, rief er einen anderen. Er gab die Anweisung, dass Peiltrupps zusammenzustellen waren. Endlich kam Bewegung in den Gefängnisflur. Während die Männer ihre Geräte holten, alarmierte er die Fernpeilstationen.
    Aus dem Gespräch der drei Stationsleiter mit Sprigings entnahm Eric, dass die Sache nicht gar so aussichtslos war. Da während eines Bombenangriffs keine Radiostation sendete und das Amateurfunken seit Kriegsbeginn grundsätzlich illegal war, konnten die Stationen recht zügig die Frequenzen durchschalten: Fast alle waren stumm.
    Mit Mühe hielt er seine Aufregung im Zaum.

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