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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Prolog
    Mit dem November kam der Nebel.
    Meret saß in ihrem Lehnstuhl am Fenster und sah auf den See hinaus. Sie konnte das gegenüberliegende Ufer nicht mehr erkennen; das Wasser verlor sich im grauen Nichts. Und weil sie nicht feststellen konnte, dass es irgendwo endete, war aus dem Thunersee plötzlich ein Ozean gewachsen. Es machte Meret Angst.
    Sie wusste, dass es für diese Angst eigentlich keinen Anlass gab. Genauso wie es für vieles, das sie beängstigte, keinen Grund gab. Aber das half nichts.
    »Wie geht’s dir heute, Mutter?« Der Mann, der ihr gegenübersaß, hatte lange geschwiegen. Jetzt sah er sie an.
    »Es geht«, sagte sie. »Nichts Neues.« Der Mann nickte.
    »Es fällt bald Schnee«, sagte sie nach einer Weile. »Ich spür’s.«
    »Wir waren letzten Sonntag auf dem Männlichen«, sagte er. »Der Himmel war wolkenlos und die Jungfrau glänzte im ersten Schnee wie ein Kommunionskind. Du solltest mal raus aus dem Nebel hier. Wir könnten doch zusammen …«
    »Nicht jetzt«, unterbrach sie ihn müde. »Ich weiß, es ist lieb gemeint. Aber ich habe mich an all das gewöhnt. Es ist schon recht.«
    »Überleg es dir trotzdem, Mutter.«
    »Du weißt, dass ich das nicht mag.«
    »Was?«
    »Dieses ewige Tu dies, Mach das. Dass man mir sagt, ich soll mich zusammenreißen … und dass es Menschen gibt, denen es noch viel schlechter geht.«
    »Natürlich weiß ich es, Mutter … aber ich mach mir eben Sorgen.«
    »Das solltest du nicht. Grad du nicht. Nach all den Jahren müsstest du’s eigentlich besser wissen.«
    »Ja, natürlich.«
    »Kürzlich hat meine Friseurin gesagt, ihr würde es helfen, wenn sie sich während einer schlechten Phase selbst nicht so wichtig nimmt.«
    Der Mann seufzte. »Sie hat’s nicht böse gemeint, Mutter. Wie soll sie’s denn wissen? Es ist immer dasselbe: Erklär mal jemandem, der genug zu essen hat, was Hunger ist.«
    »Sicher.« Meret sah eine Weile in den Nebel. »Aber es schmerzt trotzdem, wenn mir eine junge Dame unterstellt, ich würde mich in den Mittelpunkt rücken … Dabei halt ich nur nach einem Fleckchen Ausschau, an das ich mich still verkrümeln könnte. Ich nehm überhaupt nichts wichtig, geschweige denn mich. Das ist ja gerade das Problem. Von mir aus könnte es fertig sein, für immer.«
    »Hör auf, Mutter!«
    »Doch. Und es würde nichts ändern. Jedenfalls nicht für mich. Und seit du mir gesagt hast, dass es Schwierigkeiten gibt, dass es vielleicht noch Jahre dauern könnte … seither denke ich wieder öfter daran.«
    »Wir haben eine andere Lösung gefunden, glaub mir. Es ist bald so weit.«
    »Ich glaub dir ja.«
    Wieder saßen sie einander schweigend gegenüber. Nach einer Weile streckte der Mann beide Arme nach ihr aus und meinte: »Und bis es so weit ist, könnten wir ja trotzdem einmal in die Berge. Mit der Bahn, von hier aus. Du setzt dich ans Fenster … Es dauert nicht lange, bis wir oben an der Sonne sind.«
    Sie schüttelte lange den Kopf. »Ich will hierbleiben. Bitte versteh doch. Hier fühl ich mich sicher.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Auch wenn du mich nach Grindelwald fährst, mir Eiger, Mönch und Jungfrau zeigst, wie sie sich in gleißendem Sonnenlicht für die Ewigkeit aufstellen: Ich würde nicht sehen, wie schön sie sind.«

1
    »Du hast eine Erkältung, das ist alles«, sagte Christoph Burri, nachdem er Eschenbach gründlich untersucht hatte.
    Eschenbach rang sich ein müdes Lächeln ab. Er kannte Burri länger, als er denken konnte. Der Kommissar und der Arzt waren sich zum ersten Mal vor ihrer Geburt begegnet. Getrennt durch die Bauchdecken zweier Mütter, die das Gebären übten: Pressen, Hecheln und die indische Brücke. Einundfünfzig Jahre war das her. Später spielten sie Fußball auf der Fritschi-Wiese, bastelten gemeinsam an ihren Fahrrädern und tauschten Erfahrungen aus; manchmal auch das Mädchen.
    »Und schlaf dich mal aus, so richtig, mein ich.«
    »Ich könnte den ganzen Tag schlafen, Christoph.« Eschenbach knöpfte sich Hemd und Hose zu, setzte sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. »Seit Corina ihre Sachen gepackt hat, bin ich nur noch ein halber Mensch.«
    »Sie sagt, das wärst du vorher schon gewesen.«
    »Vielleicht.« Der Kommissar zuckte die Schultern. »Aber jetzt merke ich es selbst. Der Trott bei uns, das Wetter … ach, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich aufhören und etwas ganz anderes machen.«
    »Was denn?« Der Arzt sah diskret auf

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