Nachtklinge: Roman (German Edition)
Jungen hinüber. Tycho verstand seine Sprache nicht, doch er stieß ihm den Dolch zwischen die Rippen, und sein Herz blieb stehen. Während er ihm die Augen schloss, entwich ein letzter Atemzug seinen Lippen. Der Tote sah aus, als sei er gefoltert worden.
»Bete für ihn«, sagte Tycho barsch zu Rosalie.
Als er ihren verständnislosen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Ich kenne keine Gebete. Du betest, ich lade die Pistole.«
Sie sagte eines auf, das sogar Dirnen und Straßenkinder kannten, eines, auf dessen Erfüllung alle Benachteiligten hofften. Ein Gebet, das nicht einmal dem Volk entstammte. Während Tycho sich fragte, ob Rosalie an die Worte des Vaterunsers glaubte, klopfte er vorsichtig mit dem Mündungslauf auf den Boden, bis sich die Kugel, die er vorhin geladen hatte, löste.
Anschließend schob er die Kugel mit der goldenen Aufschrift mit dem Ladestock in den Lauf und schloss den Deckel der Zündpfanne. Er drehte das Rad mit dem Spannschlüssel und spannte die Feder; der Abzug würde den Feuerstein herabsenken und den Funken auslösen. Er hatte nur einen Schuss. Die Kugel würde auch dann Unheil anrichten, wenn sie Andronikos nicht tötete, aber ein verletzter Andronikos war womöglich noch gefährlicher als ein unverletzter.
Alexa hatte sich unmissverständlich ausgedrückt.
»Warte«, sagte Tycho, als Rosalie vorsichtig über den Rand des Grabens spähte.
Der Magier sprach von Neuem, und die Schmerzensschreie der Kriegshunde erfüllten die Nacht. Fredericks Rudel war in Menschen zurückverwandelt, manche tot, andere lagen im Sterben. Der verletzte Frederick und ein verwundeter Getreuer hatten Schutz hinter einem Baumstumpf gesucht.
Der Oberkörper des Prinzen war aufgerissen, über eine Gesichtshälfte verlief ein tiefer Schnitt. Sein Körper war mit Stichwunden übersät. Mit letzter Kraft mühte er sich, die
Wolfsseele
zu heben und sie Tycho zu reichen, dann sackte er zusammen.
Tycho hob seine Waffe hoch.
Auf der Brücke stand Giulietta und hielt ihr Kind fest umklammert. Prinz Nikolaos stand neben ihr und starrte in Tychos Richtung. Er rief seinem Lehrer etwas zu. Andronikos nickte. Auf seinen Befehl steuerte das Häuflein verbliebener Menavlatoi direkt auf Tycho zu.
Ohne Andronikos’ Eingreifen wäre die byzantinische Elitetruppe ausgelöscht worden. Ein Blick in die Gesichter der Männer sagte Tycho, dass sie das wussten. Er sprang auf und stieß dem Ersten den Dolch in die Kehle. »Mit den beiden anderen werde ich allein fertig. Du musst Giulietta beschützen.«
Rosalie funkelte ihn an.
»Ich weiß, dass du sie hasst.«
Sie machte sich nicht die Mühe, das abzustreiten. »Was soll ich tun?«
»Falls nötig in den Tod gehen.«
»Für sie?« Rosalie verzog grimmig die Lippen.
»Dann tu’s für mich.«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt sterben kann.« Sie rang sich ein Lächeln ab, das ihre trostlos blickenden Augen nicht erreichte. Ob sie nun an das Vaterunser glaubte oder nicht, sie bezweifelte in jedem Fall, dass es für
Leute
wie sie selbst Gültigkeit besaß. Tycho konnte den Schmerz in ihrem Blick beinahe spüren.
»Siehst du den Mann dort drüben?«
Sie warf einen Blick auf Prinz Nikolaos.
»Er hat den Bogenschützen geschickt, der Eleanor ermordet hat.«
»Schwörst du mir das?«
»Bei meiner Seele.« Ein gängiger Schwur, den Tycho vor seiner Ankunft in Venedig niemals gehört hatte. Wahrscheinlich hatte es in Bjornvin auch niemanden gegeben, der eine Seele hatte.
60
F ür Eleanor …
Rosalie würde den Prinzen töten und Eleanor rächen. Die Stichwunde in ihrer Brust hatte nur ihr Leben beendet. Der Bogenschütze jedoch hatte ausgelöscht, was ihr Herz schlagen ließ. Nun befand sich nur noch ein Eisklumpen in ihrer Brust, wo Eleanor hätte sein sollen.
»Rosalie.«
Tycho konnte offenbar Gedanken lesen.
Kriege waren unvorhersehbar und grausam, auf dem Schlachtfeld starben ständig Menschen. Konnte man Rosalie wirklich die Schuld geben, wenn Giulietta unerwartet der Tod ereilte?
»Ich zähle bis drei«, sagte Tychos leise.
Als Tycho zurückwich und im Graben in Deckung ging, begriff Rosalie, was er vorhatte. Er würde Andronikos ablenken, damit sie sich an den byzantinischen Prinzen heranschleichen konnte, der hinter dem Magier stand.
Sie nickte, und Tycho fing an zu zählen.
»Zwei …«
»Drei.«
Andronikos Augen irrten zwischen Tycho und Rosalie hin und her. Als er die seltsame Waffe in Tychos Hand bemerkte, stutze er. Mehr Zeit brauchte
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