Nachtklinge: Roman (German Edition)
Geld, Titel, Protektion. Wir haben sie noch nie so erlebt. Der Gedanke ist einfach lächerlich.«
Giulietta beschloss, ihrer Cousine zu glauben.
Damals, auf der
San Marco,
hatte Tycho eine solche Andeutung gemacht. Er sei nach Venedig gekommen, um im Auftrag des Regenten die Dogaressa zu ermorden. Wieder eine seiner Behauptungen, mit denen er sie aus der Fassung bringen wollte.
11
H ast du Bedienstete für dein Haus?«, fragte die Dogaressa.
Giulietta ließ sich Zeit mit der Antwort und nahm bedächtig einen Schluck fermentierten Tees aus der zierlichen Tasse. »Ja, danke. Einen Koch, eine Amme, Träger und eine Wache. Ich war tagelang damit beschäftigt.«
»Andernfalls …«
»Sehr freundlich, Tante Alexa, aber es ist alles bereits geregelt.«
Sie saß mit dem Rücken zur kunstvoll gemeißelten Marmorbrüstung des Balkons. Von hier aus blickte man über die schmalen Gärten hinter dem Palazzo Ducale. Es war Anfang Juni und alles stand in voller Blüte: Löwenmäulchen, Lilien und Bouvardien wuchsen in prächtigen Dolden aus Kübeln oder überwucherten die Ränder der Steinurnen, die älter waren als die Serenissima selbst.
Giulietta hätte schwören können, dass bei dieser Antwort ein leises Lächeln über Tante Alexas Gesicht huschte.
»Wie geht es Marco?« Sie hatte nicht die Absicht gehabt, mit dieser Frage vom Thema abzulenken, aber eigentlich kam es ihr ganz gelegen.
»Von Tag zu Tag besser.«
»Das freut mich.«
»Mich auch«, erwiderte die Dogaressa knapp. Sie lehnte sich zurück und fügte hinzu: »Weißt du, woran ich mich am liebsten erinnere, wenn ich an ihn denke?«
»Nein, Tante Alexa.«
»Sigismund hat Marco einen Spielzeugwolf mit echtem Fell geschenkt, als er noch klein war.« Sie bemerkte Giuliettas überraschte Miene. »Wir waren nicht immer Feinde. Er ist Marcos Pate, auch wenn das nicht viel heißen mag. Damals fand ich den Wolf ein reizendes Geschenk. Inzwischen denke ich natürlich ein wenig anders darüber.«
Seit der Kaiser seine Kriegshunde nach Venedig geschickt hatte, war deutlich, dass das Geschenk zumindest doppeldeutig gewesen war. Giulietta fragte sich, welche Lehre sie daraus ziehen sollte, als ihre Tante fortfuhr.
»Eines Tages ging ich in Marcos Zimmer. Errätst du, womit er beschäftigt war?«
Giulietta schüttelte den Kopf.
»Er spielte Schach mit dem Wolf und zog abwechselnd für sich selbst und sein Spielzeugtier. Es waren gute, kluge Züge. Eine Woche später bekam er Fieber, und aus einem vielversprechenden Sechsjährigen wurde ein stotternder Idiot, der sich nicht mal allein anziehen oder waschen konnte.«
»Ein ähnliches Fieber wie er jetzt hat?«
Die Dogaressa blickte starr durch ihren dichten Schleier. Wäre Alexa nicht ihre Tante, hätte sie Giulietta Angst eingejagt. Oder mehr Angst, genauer gesagt.
»Du nennst seine Erkrankung ein leichtes Fieber«, sagte Giulietta, »weil man auf der Straße so darüber redet, oder?« »Woher willst du wissen, was die Leute auf der Straße reden?«, fragte die Dogaressa
»Weil ich dort gewesen bin.«
Giulietta fand ihre Spaziergänge durch Venedig ungeheuer aufregend. Sie mischte sich unter die Frauen auf den Märkten, schlenderte über verlassene Plätze, zündete in abgelegenen und unbedeutenden Kirchen Kerzen für Leopold an und stellte sie vor Madonnen, die seit Jahren nicht mehr vergoldet oder neu bemalt worden waren.
Tante Alexa hatte niemals so viel Freiheit genossen.
Sie würde auch niemals so viel Freiheit haben. Durch ihre Ehe hatte sie eine Gefangenschaft mit der anderen vertauscht. Der Witwenstand hatte ihr neue Verantwortung aufgebürdet, während Giulietta durch Leopolds Tod ungeahnte Freiheit genoss. Der kleine Leo war zwar ein Prinz, aber kein Thronanwärter. Der Tod des Mannes, der sie, wenn auch auf sonderbare Weise, geliebt hatte, hatte Giulietta zur Unabhängigkeit verholfen, und sie konnte seinen mächtigen Namen dem ihren hinzufügen. Sie war ihrer Familie nicht mehr hilflos ausgeliefert.
»Woran denkst du?«, fragte die Dogaressa.
»Wie es in der Welt zugeht.«
»Und wie geht es darin zu?«
»Vieles geschieht im Verborgenen.« Alexa brach in so lautes Gelächter aus, dass der Junge, der die Rosen beschnitt, zu ihnen hochblickte und erschrocken gleich wieder den Blick senkte. Hoffentlich hatte niemand sein anstößiges Verhalten bemerkt. Eine vergebliche Hoffnung. Im Palazzo Ducale blieb nichts unbemerkt.
»Weißt du …« Giulietta stockte.
»Wer Marco vergiftet hat?« Alexa
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