Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
1.
Tot. Sie war tot. Auf der anderen Seite des Lebens. Zurück wollte sie nicht. Nie wieder, es gab nichts und niemanden, zu dem sie sich zurücksehnte. Trotzdem würde er sie holen, bald, das wusste sie, und sie gegen ihren Willen durch Zeit und Raum zerren. Er würde ihr 2 000 Volt durch die Brust jagen, und dann würde sie auch wieder die Hölle spüren, zu der ihr Körper geworden war. Er würde alles tun, um sie wiederzubeleben. Sollte sie versuchen, Kontakt zu bekommen? Um Frieden zu finden. Und um ihm Frieden zu geben.
Sie hörte einen Schrei. War das hinter ihr? Oder war sie es, die schrie? Sie sah den silbernen Streifen, der sich unendlich verspielt vor ihren Augen abzeichnete, ihre Seele aber noch immer mit ihrer irdischen Hülle verband. Wie eine Nabelschnur, etwas, das durchtrennt werden musste. Sie musste kämpfen – so viel stand fest. Er durfte sie nicht wieder zu fassen bekommen, sie zurück ins Leben zerren, foltern und wieder und wieder umbringen. Sie wollte ins Licht. Sie wollte weg. Er zog jetzt an ihr, hatte die Wiederbelebung begonnen. Sie sah auf den silbernen Streifen, der sich wie ein Gummi spannte.
Lass mich rein . Ich flehe dich an .
Und in dem Moment, als sie die Wärme des Lichts spüren konnte, bekam sie eine Antwort.
Du bist es, die festhält, nicht wir .
Nein. Sie irrten sich. Wer auch immer sie waren. Sie war bereit, wollte weiter und nicht zurück in ihren gequälten Körper.
Das ist er . Nicht ich . Ihr müsst mir helfen .
Im gleichen Moment wurde sie zurückgezogen, wie ein Fisch, der am Haken durchs Wasser gekurbelt wurde. Die Welt entschwand ihr. Das wunderbare Netz, das die Erde umgab, war das Letzte, was sie sah, bevor alles dunkel wurde.
Dann kamen die Schmerzen. Unglaubliche Schmerzen.
»Kannst du mich hören?«
Sie erkannte die Stimme wieder. War das ihr Vater? Nein, er würde ihr so etwas nicht antun. Sie wachte auf.
»Kannst du mich hören?«
Seine Stimme war ruhig, angenehm, besorgt – eine Stimme, die nicht zu seinen Taten passte.
»Ich gebe dir jetzt einen Schluck Saft, versuch den Mund zu öffnen.«
Himbeersaft, der gleiche, den sie mal im Krankenhaus bekom men hatte, als sie mit einem gebrochenen Knöchel eingeliefert worden war und operiert werden sollte.
»Es tut so weh«, flüsterte sie.
»Wenn du trinkst?«
»Ja.«
»Deine Muskeln waren einem starken Schock ausgesetzt, als ich dich wiederbelebt habe. Das geht aber schnell vorbei. Ich habe dem Saft ein schmerzstillendes Mittel beigesetzt. Versuch ein bisschen mehr zu trinken.«
Sie trank, die Flüssigkeit wirkte zäh, als sie sich an ihrem Kehlkopf vorbeikämpfte. Endlich konnte sie die Augen öffnen und erkannte ihre Wohnung. Das Bett, den Ventilator unter der Decke. Jetzt stand er still. Von hier unten, flach auf dem Boden liegend, hatte sie ihre Wohnung noch nie gesehen. Festgebunden. Sie konnte weder Arme noch Beine bewegen. Ein Fisch, dachte sie und erinnerte sich an ein Spiel aus ihrer Kindheit. Vogel oder Fisch. Ein seltsamer Gedanke, gerade jetzt. Andererseits auch wieder nicht. Vogel oder Fisch? Ich bin irgendwo dazwischen, sagte sie zu sich selbst. Zwischen den Toten und den Lebenden, in dem Raum, den die Katholiken als Fegefeuer bezeichnen, der aber alles andere als übel und schlimm ist. Jetzt bin ich ein Fisch, dabei sollte ich ein Vogel sein.
Er stand auf. Legte ein Buch auf die Kommode und lief ungeduldig durch das Zimmer. Hatte er wirklich gelesen, während sie tot war? Und noch dazu in ihrem Buch, ihrer Bibel, mit dem simplen Titel Phaidon . Hätte sie dieses Buch nicht gelesen und hätten sie Sokrates’ Gedanken über die Unsterblichkeit der Seele nicht so fasziniert, würde sie jetzt nicht hier liegen. Curiosity killed the cat .
»Kannst du sprechen?«
»Ja.«
»Hast du Kontakt bekommen?«
Vielleicht sollte sie einfach irgendetwas erfinden. Was wollte er hören? Was würde ihn stoppen, damit er ihr diese Spritze zum letzten Mal gab?
»Ja, ich hatte Kontakt. Aber nur ganz kurz«, flüsterte sie.
»Wirklich? Du darfst mich nicht anlügen.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Nein, vielleicht, ich weiß es nicht.«
Sie wollte die Tränen wegwischen, aber ihre Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt, weich, mit einem Seidentuch, damit es keine Spuren hinterließ. Dessen hatte er sich vorher versichert.
»Ich kann nichts sehen.«
Er wischte ihr das Wasser aus den Augen.
»Kannst du meinen Kopf losmachen, es tut so weh.«
»Nein, du musst wieder zurück.
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