Nachtklinge: Roman (German Edition)
ließ sich neben Giulietta nieder, und Graf Roderigo musste sich mit dem nächsten Platz begnügen. Die Sitzordnung unterstrich die Unabhängigkeit des Klosters.
Mochte die Politik des Abtes auch fragwürdig sein, sein prächtiges Fest war jedenfalls gelungen. Dunkler, samtiger Barolo, edelsüßer, süffiger Weißwein aus Deutschland. Da die Ordensbrüder eigenes Bier brauten, standen ganze Fässer davon bereit. Das Essen war nicht minder köstlich. Frisches Brot aus der Klosterküche, eingelegtes und gesalzenes Gemüse aus dem Garten, getrockneter Hammel, in Wasser eingelegt, bis er salzfrei war, und gekocht, bis alles Fett sich gelöst hatte. Karpfen aus dem Teich, gebackene Sardellen aus der Lagune und gebratener Aal mit Fenchel.
Große runde Scheiben altbackenen Brotes dienten als Teller. Die vornehmen Gäste ließen ihres abtragen, diejenigen an den niederen Tischen aßen die vom Fleischsaft durchweichten Scheiben genüsslich auf. Danach wurden die süßen Speisen aufgetischt, es gab Konfekt, kandierte Früchte, frische Datteln und Pflaumen. Wein und Bier flossen in Strömen, und kaum hatte man einen Schluck genommen, wurde auch schon nachgeschenkt.
»Trinkst du nichts?«, fragte Desdaio.
Tycho schüttelte den Kopf. Seit Ostern mochte er keinen Wein mehr. Damals hatte er sich von Schenke zu Schenke durchfragen und Wein trinken müssen, um eine Spur zu verfolgen, die ihn schließlich zu Alexa und Alonzo führte. Er hatte jedoch darin versagt, die von ihnen gestellte Aufgabe zu erfüllen.
Sie hatten ihm befohlen, Prinz Leopold zu töten. Tychos Blick wanderte zu Prinzessin Giulietta und streifte dabei den Mann an der Tür. Temujin war Roderigos Wachtmeister und Tychos Erzfeind. Beide hassten einander bis auf den Tod.
Temujin war nicht gemeinsam mit Roderigo auf die Insel gekommen und musste gerade angelegt haben. Tychos Eindruck wurde bestätigt, als Hauptmann Roderigo nun seinen Stuhl zurückschob. Er murmelte, an den Prior gewandt, eine Entschuldigung, leerte sein Glas in einem Zug und ging rasch zur Tür. Dort drehte er sich um und bemerkte Tychos wachsamen Blick. Seine Miene war undurchdringlich.
Als Tycho sich wieder Desdaio zuwandte, überlief es ihn eiskalt.
»Du starrst«, mahnte sie ihn.
Aber wie hätte er nicht starren sollen?
Ihre Gesichtshaut war plötzlich durchscheinend geworden, die Knochen darunter zeichneten sich deutlich ab. Desdaios Augen, berühmt für ihre Schönheit, glichen leeren Höhlen.
Der Totenschädel unter der Haut
…
Aus ihrem Gesicht starrte ihn der Tod an.
»Tycho … was hast du denn?«
Für einen Moment fühlte er sich wie ein Ertrinkender. Ohne zu fragen, stürzte er ihren Wein hinunter und sah sich um, betäubt vor Entsetzen von all den Totenschädeln, die seinen Blick erwiderten. Nicht nur an diesem Tisch, sondern auch an allen anderen, wo die einfachen Ordensmitglieder der Weißkreuzler saßen. Totenschädel reihte sich an Totenschädel. Noch spannte sich die Haut darüber, doch darunter grinste der Tod.
»Ihr müsst gehen«, befahl er Desdaio und erhob sich, ehe sie antworten konnte. Überrascht bemerkte Giulietta, dass Tycho plötzlich neben ihr stand.
»Wie hast du …«
»Keine Zeit für Fragen.« Tycho riss Leo aus seinem Körbchen und zog Giulietta am Handgelenk auf die Beine. Als ihr Stuhl polternd umfiel, verstummte die Unterhaltung. »Los, komm.«
»Gib mir Leo …«
»Du musst mit mir kommen.«
»Tycho, gib mir meinen Sohn.«
»Willst du, dass er stirbt?«
Einige der aufmerksameren Weißkreuzler an den unteren Tischen hatten die Köpfe eingezogen, als ahnten sie, dass etwas Schlimmes vor sich ging, wussten aber nicht, was es war.
»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich der Abt.
»Ja«, sagte Tycho.
»Ich habe Prinzessin Giulietta gefragt.«
»Das kümmert mich nicht.« Tycho drängte Giulietta zur Tür hinaus und blieb erst am anderen Ende des großen Hofes vor einer Kornkammer stehen. Als er ihr Leo in den Arm drückte, war das Gesicht des Kleinen rosig, und er gluckste vergnügt.
»Rühr dich nicht vom Fleck.«
»Tycho, du kannst doch nicht …«
»Sonst kostet es dich das Leben.« Er überließ ihr die Entscheidung und stürzte davon.
Kurz darauf erschien er mit Atilo und Gräfin Desdaio und zerrte die junge Frau und den Mauren mit aberwitziger Geschwindigkeit über den Hof. Er ließ ihre Handgelenke erst los, als sie neben Giulietta standen.
»Was zum Teufel …?«, donnerte Atilo.
Da barst das Klostergebäude hinter ihnen
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