Nachtmahl im Paradies
sogar die Straßenseite wechseln, als sie sich versehentlich beim Einkaufen begegneten.
Danach versöhnten sie sich wieder. Es war ihr erster Streit in mehr als zwanzig Jahren. Patrice war der einzige Mensch, den Jacques beinahe genauso lange kannte wie Elli. Schließlich sah er ein, dass Patrice ihn, Jacques, möglicherweise genauso gut kannte, wie sie es getan hatte. Sie, die ihm mit ihrem ganz und gar unnötigen Tod das Herz gebrochen hatte. Elli hatte vor nichts Angst gehabt im Leben. Aber er, Jacques, hatte nun vor allem Angst. Und seine größte Angst war, das bisschen, was ihm noch von ihr blieb – das Paris mit allen Erinnerungen, die in seinen Mauern steckten –, zu verlieren.
Einmal am Tag unternahm Jacques zu seiner allgemeinen Erbauung einen Ausflug ins Grüne. Eine Unternehmung, die ihn nicht allzu weit hinausführen sollte, denn das Paris lag bereits mitten im Grünen. Überhaupt gab es nicht viel anderes in der Normandie als dieses nicht enden wollende Grün, das hier bis ans Meer und dort bis an den Horizont und immer weiter zu reichen schien. Im Sommer bunt gesprenkelt mit leuchtend rotem Mohn und lilablauen Kornblumen, im Winter durchzogen von grauen Wasserpfützen.
Jacques hatte es sich angewöhnt, lange zu schlafen. Oftmals erwachte er nicht vor zehn oder elf Uhr morgens. Seine ständige persönliche Anwesenheit im Paris war nicht mehr erforderlich, seit Küche und Service sich auf dem derzeitigen Niveau eingependelt hatten. Ehrlich gesagt schämte er sich deswegen ein wenig, obwohl es ihn eigentlich nicht kümmern musste – das Paris war eben auch nur ein Restaurant wie jedes andere. Nur noch selten verirrten sich Schatten der Vergangenheit an diesen Ort – Gäste aus besseren Zeiten –, und wenn es so war, überließ Jacques sie möglichst einem seiner Kellner. Immer wenn er diesen Gästen, die sich an ihn zu erinnern schienen wie an einen guten alten Freund, tief in die Augen sah, flog die Vergangenheit darin vorüber wie in einem in Gold getauchten Film. Noch bevor das Wort fin auf der Leinwand erschien, sah er sich selbst oder das, was von ihm übrig geblieben war. Ein schrecklicher Anblick, dem er lieber aus dem Weg ging, ja, vor dem er sich bisweilen sogar versteckte.
Überhaupt war das Verstecken – neben dem Schlafen – zu einer seiner Lieblingsbeschäftigungen geworden. Die täglichen Ausflüge gleich nach dem Frühstück gehörten unbedingt dazu. Jacques fuhr noch immer die wunderbare Citroën DS , in einem Kleid aus Lack, genauso golden wie die Bilder der Vergangenheit. La Déesse – die Göttin, wie Kenner sie nur bewundernd nannten. Es war die von Henri Chapron in Paris gefertigte Cabrioversion, die Krönung französischen Automobilbaus. Wenn seine Freunde ihn fragten, ob er nicht endlich auf etwas Modernes umsteigen wolle – denn die DS war bereits eine betagte Dame, die Produktion war 1975 eingestellt worden –, schüttelte er nur den Kopf. Dann schaute er seine Freunde an, als wären sie kleine Kinder, die in ihrer Naivität soeben etwas unendlich Dummes von sich gegeben hatten.
»In diesem Auto habe ich zehn Prozent der besten Zeit meines Lebens verbracht«, sagte er dann immer.
Daraufhin blickten ihn wiederum seine Freunde an, als wäre er ein kleines Kind, das in seiner Naivität soeben etwas unendlich Dummes von sich gegeben hatte.
Dabei war es nur logisch. Vor einigen Jahren hatte Jacques sich an den kleinen Holztisch in seiner Küche in der Wohnung über dem Paris gesetzt, die schon damals dringend mal wieder hätte aufgeräumt werden müssen, um auf einem Zettel folgende Bestandsaufnahme seines Lebens zu notieren:
Elli & Jacques (gemeinsam verbrachte Zeit):
Paradies: ca. 35 %
Bett: ca. 35 %
Piratenmast: ca. 10 %
Auto: ca. 10 %
weitere Orte: ca. 10 %
Das Auto lag also gleichauf mit dem Piratenmast auf Platz drei und gehörte somit zu den schützenswerten Orten, sozusagen zu Jacques’ privatem Weltkulturerbe, das unter keinen Umständen angetastet werden durfte und höchsten Rang genoss.
Mit Elli war er jeden Tag nach dem Frühstück auf den Markt nach Trouville gefahren, um die Einkäufe für das Restaurant zu erledigen. Einen Tag in der Woche schlossen sie das Paradies einfach ab und machten sich auf und davon. Im Sommer an die Strände, die wie prächtige weiße Läufer die Grenze zwischen Meer und Land markierten, über bunte Blumenwiesen, durch schattenspendende Wälder, einer kleinen Landstraße folgend, an der romantische Weiler und Dörfer
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