Nachtmahl im Paradies
Westentasche.
Mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel versicherte Jacques sich, dass sein Gesicht sich nicht unangemessen von der Traurigkeit des Anlasses dieser Fahrt im Speziellen und seines Lebens im Allgemeinen abhob. Er konnte zufrieden sein. Es war ihm nicht einmal gelungen, sich zu rasieren an diesem Morgen. Er hatte seinen vernachlässigten Körper in den schwarzen Anzug gezwängt, den er das letzte Mal bei Ellis Beerdigung getragen hatte. Immerhin war der Termin, zu dem er fuhr, nichts anderes als das: eine Beerdigung. Auf seine private Kapitulation folgte nun um sieben Jahre zeitversetzt seine berufliche.
Wäre da nicht jene, die Farbenwelt eines café au lait nachmalende Rückbank gewesen, man hätte das, was Jacques in diesem Moment im Rückspiegel sah, durchaus als ein Schwarz-Weiß-Porträt betrachten können: der schwarze Anzug, das weiße Hemd, seine aschfahle Haut, die kurzen grauen Bartstoppeln und seine müden, zusammengekniffenen Augen, die ebenfalls grau geworden waren. Dabei hatte Elli immer behauptet, ihr tiefes Braun ähnele dem einer Mousse au Chocolat und sie seien die schönsten Augen der Welt. Offenbar hatte sie sich geirrt.
Ihre Phantasie war nicht selten mit ihr durchgegangen. Er konnte und wollte sich nicht daran erinnern, was damals alles angeblich gewesen war. Elli hatte ihn immer als schön bezeichnet – nicht nur seine Augen, sondern den ganzen Jacques. Was sie nicht wusste: In Wahrheit war er niemals besonders attraktiv gewesen, sondern stets nur ein Spiegel ihrer Schönheit. Zweiundzwanzig Jahre lang war er die helle Seite des Mondes gewesen, die das Licht der Sonne zurückgeworfen hatte. Es war wahr: Elli war nicht nur die bezauberndste Frau von Trouville, der Normandie und ganz Frankreich gewesen, sondern das vollkommenste Wesen des gesamten Universums. Würden Recht und Ordnung gelten auf dieser Welt, man hätte exotische Blumen nach ihr benannt, besonders hell leuchtende Sterne am Himmel und zumindest eines der Weltmeere, auf das ihr warm und voller Zärtlichkeit strahlendes nächtliches Licht fiel. Doch so war es nicht, und deshalb pfiff Jacques auf diese Welt. Ehrlich gesagt: Sie konnte ihm gestohlen bleiben.
Als er wieder zurück auf die Straße blickte, raste – oh, là, là! – ein mattschwarzes Ungeheuer direkt auf ihn zu. Einer dieser ultramodernen englischen Ackergäule, den die Roastbeefs – les rosbifs – offensichtlich mit einem Rennpferd gekreuzt hatten und dem seine Züchter anschließend den Namen Range Rover auf seinen fetten Arsch tätowiert hatten. Das Ungeheuer fuhr mitten auf der Straße. Jacques’ Augen weiteten sich angstvoll, als er sah, wer hinter dem Steuer des Ungeheuers saß: niemand!
In einem seltenen Moment von Geistesgegenwart riss Jacques das Steuer herum und verließ ungebremst die Landstraße in Richtung der agrarwirtschaftlich genutzten Flächen der Normandie. Wie ein Hase, der sich mindestens zwei seiner vier Pfoten gebrochen hatte, hoppelte seine goldene Göttin in ein Feld aus nicht weniger goldenem Getreide. Jacques wurde ordentlich durchgeschüttelt. Ein süßer Gedanke durchfloss ihn, während er einem kontraproduktiven Reflex folgend versuchte, das wild ruckende Lenkrad nicht loszulassen und die DS in der Spur zu halten. Dabei gab es gar keine Spur mehr, denn er hatte die Straße längst verlassen. Gleich würde der Wagen sich filmreif überschlagen und in einem Feuerball aufgehen – was bedeutete, dass er, Jacques, sich endlich nicht mehr mit dem ganzen Mist hier unten würde herumschlagen müssen. Er wäre bei seiner Elli. Home sweet home.
Es dauerte einen Moment, bis der Wagen zum Stehen kam. Jacques ließ ihn einfach auslaufen – möglicherweise in der bis zuletzt in ihm keimenden Hoffnung, in dem Getreidefeld könne sich irgendwo eine Betonmauer befinden, die seinem Dasein auf diesem Planeten ein abruptes Ende bescheren möge.
Doch Fehlanzeige.
Er konnte nicht sagen, wie lange er bereits in der Stille des Feldes hinter dem Steuer des stehenden Autos gesessen hatte, als jemand an die Scheibe unmittelbar neben seinem Kopf klopfte.
Vor seinen enttäuschten Augen, die noch immer keine Engel gesichtet hatten, erschien stattdessen unerwarteter Weise das Abbild einer Frau – Anfang vierzig vielleicht. Ihre Augen hatten das Blau der Kornblumen am Wegesrand eingefangen, und ihr Haar wies einen zarten Kupferstich auf – woher auch immer er herrühren mochte. Jacques konnte es sich in diesem Augenblick nicht
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