Fuer den Rest des Lebens
Erstes Kapitel
Ist das Zimmer gewachsen oder ist sie es, die geschrumpft ist? Schließlich ist es doch das kleinste Zimmer in einer Wohnung, klein wie eine Handfläche, und nun, da sie von morgens bis abends im Bett liegt, kommt es ihr vor, als hätte sich das Zimmer ausgedehnt, als wären Hunderte von Schritten nötig, um zum Fenster zu kommen, und wer weiß, ob ihr Leben ausreichen würde. Der Rest ihres Lebens, besser gesagt, die letzte Frist des Lebens, die ihr zusteht, kommt ihr absurderweise wie eine Ewigkeit vor, denn weil ihr jede Bewegung fehlt, scheint sich die Zeit endlos zu dehnen. Es stimmt, sie ist knochig und geschrumpft, leicht wie eine Feder, es stimmt, dass jeder Luftzug sie vom Bett heben kann, es ist, als würde nur das Gewicht der Decke sie daran hindern, durch den Raum zu schweben, es stimmt, dass jeder Hauch den letzten Faden zerreißen kann, der sie mit dem Leben verbindet, aber wer sollte es sein, der atmet, wer sollte es sein, der sich überhaupt die Mühe macht, in ihre Richtung zu pusten.
Ja, sie wird noch Jahre und Jahre hier unter der schweren Decke liegen, sie wird ihre Kinder älter werden sehen, sie wird sehen, wie ihre Enkel erwachsen werden. Ja, in bitterer Gleichgültigkeit hat man sie zu ewigem Leben verurteilt, und plötzlich kommt es ihr vor, als sei auch zum Sterben Kraft nötig, eine Art Vitalität des zukünftigen Toten oder seiner Umgebung, eine persönliche Aufmerksamkeit, ein umständliches Kümmern wie bei den Vorbereitungen zu einem Geburtstag. Auch zum Sterben braucht es ein gewisses Maß an Liebe, und vielleicht wird sie nicht mehr genug geliebt und vielleicht liebt sie selbst nicht mehr genug, noch nicht einmal dafür.
Nicht dass sie nicht kommen, fast jeden Tag betritt einer von ihnen die Wohnung, sitzt neben ihr im Sessel, interessiert sich angeblich für ihr Wohlergehen, doch sie spürt den alten Groll, bemerkt die Blicke auf die Uhr, das erleichterte Aufatmen, wenn das Telefon klingelt. Plötzlich verändern sich die Stimmen, werden energisch und lebendig, ein Lachen löst sich aus der Kehle, ich bin bei meiner Mutter, verkünden sie schließlich ihrem Gesprächspartner mit theatralischem Augenrollen, ich rufe an, wenn ich hier weg bin, und wenden dann ihre hohle Aufmerksamkeit wieder ihr zu, sie machen sich die Mühe, etwas zu fragen, hören aber nicht zu, was sie sagt, und sie zahlt es ihnen heim mit ermüdenden Antworten, berichtet in absoluter Ausführlichkeit, was der Arzt gesagt hat, gefolgt von einer endlosen Liste der Medikamente. Wer von uns schreckt stärker vor dem anderen zurück, ich vor ihnen oder sie vor mir, fragt sie sich, und ihre beiden Kinder werden zu einer Einheit, obwohl sie so verschieden voneinander sind und sich nur ihr gegenüber verbünden können, und das erst in der letzten Zeit, während ihre alte Mutter von morgens bis abends in einem kleinen Zimmer im Bett liegt, losgelöst von der Schwerkraft.
Es ist überfüllt und quadratisch, das Zimmer, dessen einziges Fenster zu dem arabischen Dorf geht, an der nördlichen Wand ein alter Schreibtisch, an der südlichen ein Schrank mit ihren Kleidern, jenen bunten Kleidern, die sie nie mehr anziehen wird. Schon immer hat sie kräftige Farben gemocht, der Schnitt war ihr egal, eine lange, weite Tunika, ein um die Hüften spannendes Kleid, Faltenröcke, bis heute weiß sie nicht, was ihr besser steht, und sie wird es nun nicht mehr erfahren. Ihre Augen wandern zu dem runden Kaffeetisch, den sie für ihre Tochter hatte anschaffen müssen, im Laden hatte sie zu weinen angefangen, obwohl sie schon ein junges Mädchen war, ihr habt mich gezwungen, in diese hässliche Wohnung umzuziehen, und habt mir noch dazu das kleinste Zimmer gegeben, dann lasst mich wenigstens die Möbel kaufen, die mir gefallen. Hör auf zu weinen, hatte sie ihre Tochter angeschrien, alle schauen schon zu dir hin, aber natürlich hatte sie nachgegeben, und mit vier Händen hatten sie den Tisch, der sich als erstaunlich schwer erwies, die Treppe hinaufgeschleppt in dieses Zimmer, das einmal das Zimmer ihrer Tochter gewesen war, sie hatten ihn mitten in den Raum gestellt, und er hatte in seiner prahlerischen Pracht die Ärmlichkeit der anderen Möbel betont.
Jetzt ist auch er langsam in die Jahre gekommen, hat die Zeit in sich aufgesaugt und seine Farbe verloren, doch die Medikamentenschachteln verdecken das massive, schwere Eichenholz, Medikamente, die eine Entzündung heilten, aber zu einer Allergie führten,
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