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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Förg
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Tote
entdeckt.«
    »Ja, klar, wir sind schon unterwegs.«
    Aus dem Stall des Nachbarn kamen gewohnte Morgengeräusche,
vor der Kapelle in Gschwend rauften zwei junge Kater um den Revieranspruch. Vor
Edis Radl-Laden türmten sich Kartons, in denen sich edle Räder befunden hatten.
Gerhard fand das jedes Mal höchst seltsam, dass hier in der Einöde ein Radladen
war, dessen Besitzer nicht nur mit so einigem schacherte und, was Frauen
betraf, den ultimativen Röntgenblick hatte, sondern auch noch ein Held der
Transalp war. Aber in diesem Dorf wurde sowieso dauernd gebikt, allen voran der
alerte Bürgermeister, den Gerhard jüngst mal in Tracht gesehen hatte. Ein
Kollege hatte ihm schmunzelnd erklärt, dass die Stulpen, die die Waden des
bayerischen Brauchtumsmannes generell zieren, beim Dorfhäuptling irgendwie
anders seien. Ja, sie hätten ein Plus an den gestrickten Rauten, weil dieser
Mann eben die Einheitsstulpe mit seinen Radlerwaden sprengte.
    Es war gut, die Gedanken Haken schlagen zu lassen, das
tat er immer, bevor es ernst wurde. Bevor sie wieder losging, die zermürbende
Suche nach jemandem, der sich anmaßte, Schicksal zu spielen, der dem Himmelpapa
seinen Job abnahm, jemandem, dem menschliches Leben nichts wert war. Sofern
diese Jeanny da am See nicht einfach verunfallt war.
    Gerhard ließ die Pedale ruhen hinter der Gschwender
Höh’, die dicken Mountainbikereifen gaben ein surrendes Geräusch von sich auf
dem Asphalt. Der Blick auf den Pürschling befreite jedes Mal sein Herz. Er, der
Allgäuer, der Oberallgäuer, konnte ohne Berge nicht leben, und für Gerhard war
Kempten schon der absolute Nordrand eines akzeptablen Berglands. Er liebte nun
mal diese buckligen Landschaften, die in mehreren Stufen anstiegen und wo ganz
am Horizont die Größen der Bergwelt Spalier standen. Das hier war ja eigentlich
eine Allgäuer Landschaft, aber das durfte man den Oberbayern natürlich so nicht
sagen. Auch nicht, dass sie einen eigentümlichen Dialekt sprachen, nicht
wirklich urbayerisch, auch nicht allgäuerisch, eher waren das neandertalerische
Grunzlaute, wie Kassandra das mal genannt hatte.
    Am Himmel gab es einen Mix aus Sonne und Wolken, es war
noch sehr kühl, aber eine Kühle, die verheißungsvoll war, weil ein warmer
Herbsttag folgen würde. Auf der Dorfstraße war es still, erst beim Parkhotel
kam ihm ein Auto entgegen. Er passierte die letzten Gästehäuser und bog rechts
in den Wald ab. Es hatte Vorteile, wenn man das Netz an Wegen und Weglein hier
kannte.
    Als er über die Brücke fuhr, sah er einen kleinen
Menschenauflauf. Er hielt mit quietschenden Bremsen an – Jo war überhaupt
keine, die ihre sündhaft teuren Sportgeräte mal gepflegt hätte –, ließ das Rad
fallen und hastete über die Wiese. Da stand Kassandra. In gewissem Abstand etwa
zehn Leute. Die Morgensonne tanzte in ihren dunklen Locken, die einen
Rotschimmer besaßen. So klein und zierlich sie auch war, sie schien einige
Menschen allein durch ihre Aura gleichsam abzublocken.
    »Hallo.« Sie flüsterte immer noch. »Ich hab denen
schon gesagt, dass gleich die Polizei kommt.«
    Zum Jogger hatten sich noch einige andere
Morgensportler gesellt, inklusive irgend so einer »Begrüße flink den Tag, bevor
du lecker Kräutertee süffelst«-Wellness-Gruppe aus dem Parkhotel. Gerhard
zauberte ein Absperrband hervor und bat die Leute, zurückzutreten.
    »Hast du sie angefasst?«, fragte er Kassandra.
    »Ja, ich habe ihre Halsschlagader gefühlt. Sonst
nichts.«
    Gerhard zog Gummihandschuhe an und kniete sich zu dem
Mädchen. Sie konnte noch nicht allzu lange tot sein. Auf den ersten Blick war
keine Gewaltanwendung zu erkennen. Genaueres würde ihm der Gerichtsmediziner
sagen. Schon nach fünf Minuten beginnt der menschliche Körper zu verfallen,
dachte Gerhard. Auf ein langes Leben folgte ein langer Zersetzungsprozess.
Warum machten die Menschen nur so viel Aufhebens um ihre kleinen, unbedeutenden
Probleme? Wo sie doch alle eine Beute von Würmern und Mikroorganismen würden.
Oder in Rauch aufgingen; dem zumindest gab Gerhard den Vorzug. Es sah das
Mädchen an. Sie hatte allerdings noch nicht allzu lange gelebt. Sie war
vielleicht Mitte zwanzig, schätzte er – aber was war schon eine angemessene
Lebenszeit?
    Als die Spurensicherung und der Arzt eintrafen, stand
die Sonne schon höher am Himmel. Das Licht war weich, einzelne Nebelinseln
lagen noch über den Wiesen. Das Moos hatte ein Herbstkleid von korallenrot bis
strohgelb angelegt und flirtete

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