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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Förg
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wohl diverse
Landfrauen gebacken hatten. Sie hörten einige Nachrufe auf Marianne Erhard. Sie
ernteten missbilligende Blicke. Aus dem Augenwinkel sah Gerhard, dass Sybille
McNeill hinausgegangen war.
    Er folgte ihr. Sie war bis zur Fohlenwiese gegangen
und lehnte rauchend am Holzzaun. Als er sie erreicht hatte, sagte Gerhard: »Es
tut mir leid.«
    Sie nickte bloß.
    »Sie sind nicht von hier?«, sagte Gerhard schließlich.
    »Doch, ich bin von hier. Heute spüre ich das ganz
deutlich. Lange Zeit wollte ich aber nichts mehr, als diese Zugehörigkeit zu
leugnen.«
    Gerhard sagte nichts, und sie fuhr fort: »Ich war das
Nesthäkchen der Familie, und ich hatte die Schuld auf mich geladen.«
    »Welche Schuld?«, fragte Gerhard.
    »Unsere Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, sie
war damals schon fünfundvierzig. Eine uralte Frau nach Ansicht des Dorfes.
Damals bekam man mit fünfundvierzig keine Kinder mehr. Das war fast
sittenwidrig. Und dann starb sie.«
    Sie zog eine weitere Zigarette heraus, Gerhard gab ihr
Feuer. »Hat Ihr Vater Ihnen das vorgeworfen? Dass Sie schuld sind am Tod seiner
Frau?«, fragte er dann.
    »Nein, aber ich glaube, Marianne hat es mir
vorgeworfen, auf ihr ruhte die ganze Verantwortung. Sie war zwölf, als ich zur
Welt kam, und ab dann musste sie erwachsen sein.«
    »Und Anton?«
    »Anton war zehn. Er war ein Junge. Das ist ein
Unterschied. Er wurde mitgenommen aufs Feld, in den Wald, an den Stammtisch.
Marianne wurde mit zwölf sozusagen Mutter, und sie hatte einen Haushalt zu
besorgen.« Sybille sah ihn an. »Verstehen Sie?«
    »Ja, ich glaube. Hat Marianne Sie deswegen gehasst?«
    »Nein, aber ich war so anders. Ich war ein Enfant
terrible. Ich hatte Abitur gemacht, wollte eine Welt erobern, deren Grenzen
nicht Peiting und Oberammergau waren. Unser Vater hat mich ignoriert; die
Einzige, die versucht hat, mich zu erziehen, war Marianne. Aber um sie wirklich
ernst zu nehmen, war der Altersunterschied doch nicht groß genug. Ich war
aggressiv, war mal bei einigen Punks dabei, ich hatte provoziert, wo es nur
ging. Heute weiß ich, dass das für Marianne schlimm gewesen ist. Sie wollte es
doch richtig machen mit ihrer frühen Mutterschaft. Heute tut mir das sehr leid,
aber für Reue ist es nun zu spät.« Wasser überflutete ihre Augen.
    »Gehen wir ein Stück?«, fragte Gerhard.
    Sie nickte, und sie schlenderten auf den Torbogen zu.
Gerhard reichte ihr ein Taschentuch.
    »Es war die Enge hier, oder?«
    »Als ich vor achtzehn Jahren wegging, hatte ich den
Eindruck, ich würde ersticken. Heute ist das anders. Es hat vieles für sich,
wenn eine Gesellschaft tradierte Strukturen hat. Früher hat mich das
eingeschnürt, es kann aber auch auffangen.« Sie warf die Zigarette zu Boden,
trat drauf und lachte plötzlich. »Das alte Europa. Hier darf man noch rauchen,
hier dürfen Hunde noch ins Restaurant. Kanada wird zunehmend
amerikanisch-hysterisch. Ich sehe das mit Besorgnis.«
    »Sie leben in Kanada?«, fragte er.
    »Ja, ich bin nach dem Abitur als Au-pair nach Kanada
gegangen und dort hängen geblieben.«
    »Herr McNeill?«, lächelte Gerhard.
    »Ja, letztlich. Mein Mann ist Kanadier schottischen
Ursprungs. Er stammt aus einer sehr begüterten Familie. Wir sind in der
glücklichen Lage, unser Hobby zum Beruf machen zu können.«
    »Ja?«
    »Wir haben eine Guest-Ranch bei Summerland in British
Columbia und züchten Pferde. Und wir reiten englisch. Es ist bizarr. Hier sind
alle ganz wild auf die Westernreiterei, und drüben boomt die klassische
englische Reitlehre. Reiten Sie?«
    »Äh, nein, aber Pferde scheinen viele Frauen in meinem
Umkreis mehr zu beschäftigen als Job oder Männer.« Das brach einfach aus ihm
heraus, und irgendwie hatte er damit eine Barriere niedergerissen zwischen
ihnen.
    Sie lachte befreit. »Was glauben Sie, wie viele
Frösche ich küssen musste, bis mal ein Prinz dabei war, der auch Pferde liebt?
Reitende Männer sind eine Rarität.«
    »Gut, dass es sie im fernen Kanada gibt.« Gerhard
lächelte sie an. »Trotzdem: Hatten Sie nie Heimweh? Waren Sie nie mehr da?«
    »Doch, zwei Mal.«
    »Zwei Mal?«
    »Ja, einmal, als unser Vater starb, und nun, weil meine
Schwester gestorben ist.« Ihre Augen verdunkelten sich wieder.
    »Ein unerfreulicher Anlass. Ich bin, ehrlich gesagt,
nicht so gut im Kondolieren.« Gerhard verzog den Mund und kam sich linkisch
vor.
    Sie lächelte. »Ich habe von Ihrem Malheur gehört. Sie saßen
in Gips. Vielleicht beschreibt das in etwa, wie ich mich

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