Nachtpfade
die schwache Jacky unter Wasser.«
»Und eine leichte Strömung treibt sie vollends an den
Strand, dorthin, wo Kassandra sie gefunden hat«, beendete Evi den Satz. »Und
dann müssen wir das alles nur noch beweisen. Ohne Spuren werden wir ein
Geständnis von ihr brauchen. Die Frau muss doch völlig am Ende sein. Sie hat
soeben erfahren, dass ihr Bruder Jacky gar nicht hatte töten wollen. Dass sie
einen Menschen vergeblich umgebracht hat. Dass sie ihren Bruder gar nicht hätte
schützen müssen. Sie muss emotional in einem katastrophalen Zustand sein. Das
ist zwar nicht nett, aber genau das müssen wir nutzen.«
»Wir sind nicht da, um nett zu sein, Evi«, sagte
Gerhard düster. »Verhören wir erst noch mal Anton, und dann lassen wir Marianne
Erhard herbringen. Wir müssen die beiden mit den Aussagen des anderen
konfrontieren.«
Gerhard hatte Felix und Melanie losgeschickt, Marianne
Erhard zu holen. Er würde die Frau erst getrennt und dann zusammen mit ihrem
Bruder befragen. Sie würde zusammenbrechen. Zumindest hoffte er das.
Er holte sich einen Kaffee und stellte Evi heißes
Wasser für ihren Kräutertee vor die Nase. Gerhards Nackenmuskeln waren
verspannt, das Jucken hatte wieder eingesetzt. Plötzlich machte er all der
Anspannung Luft. »Wieso dauert das so lange? Wo bleiben die denn? Ruf diesen
Dragoner Melanie mal an!«
Evi sagte nichts, wählte nur. Melanie schien dran zu
sein. »Der Chef will wissen, wo ihr bleibt, Mel.« Dann hörte Gerhard Evi nur
noch »Bitte nein!« rufen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie war
aufgesprungen und begann im Zimmer umherzutigern. Dann legte sie das Handy auf
das Fensterbrett. Sie hatte Mühe zu sprechen, plötzlich begann sie hemmungslos
zu weinen. Gerhard stand auf, nahm sie in den Arm. Lange standen sie so.
Als Melanie und Felix auf dem Hof angekommen waren,
war da gerade der Hubschrauber gelandet. Marianne Erhard war in der Box des
Zuchtbullen Vitus von diesem niedergetrampelt worden. Auf dem Weg ins UKM war sie noch im Helikopter
gestorben.
Wahrscheinlich hatte sie ausmisten wollen oder
füttern, würde man später sagen. So aggressiv sei das Tier auch gar nicht
gewesen, würde man später sagen. Marianne Erhard war eine erfahrene Bäuerin
gewesen, war sogar mal Ortsbäuerin gewesen, würde man erzählen, und dass es
unverständlich sei, wie so was hatte passieren können. Das würde man sagen. Und
ganz spät am Abend, wenn über den Stammtischen nur noch Melancholie und Agonie
lagen, dann würde man sagen, dass es kein Unfall gewesen war. Nur im Schutze
der Zigarettenrauchschwaden und des Alkohols würde man das sagen.
»Informierst du ihren Bruder?«, fragte Evi, nachdem
sie lange im WC verschwunden
gewesen war.
»Ja, aber vorher fahren wir nach Schönberg. Sie muss
einen Abschiedsbrief hinterlassen haben. Sie hat ihren Bruder retten wollen,
ihn rehabilitieren«, sagte Gerhard.
Wieder diese Strecke, die er schon mit so vielen
unterschiedlichen Gefühlslagen im Bauch gefahren war: voller Wut, in tiefer
Anspannung, voll unbestimmten Unwohlseins. Heute war es eine Schwärze, die ihn
umgab. Der Böbinger Berg würde nie mehr nur noch eine kurvige Straße für ihn
sein. Er war ein Schicksalsberg. Bei Erhards auf dem Hof fanden sie Manfred
Weinling und dessen Mutter. Die beiden machten den Stall, Weinling schob gerade
mit einem Hoftrak Dung auf den Misthaufen. Sein Blick war starr geradeaus
gerichtet. Seine Mutter war in der Milchkammer.
»Waren Sie im Haus?«, fragte Gerhard.
Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie irgendwo einen Brief gefunden?«
»Ihr seid eine Saubande. Ihr seid schuld, ihr allein.
Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe? Es war friedlich hier, bevor ihr gekommen
seid.« Sie sagte das, ohne die Stimme zu heben, Gerhard registrierte, dass sie
keinen Akzent hatte. Sie klang norddeutsch. Eine frühere Touristin, die ihr
Herz an einen Schönberger verloren hatte? Er hätte ihr sagen wollen, dass es
gar nicht so friedlich hier gewesen war, hinter den Fassaden mit den Geranien
und der luftig-leichten Lüftlmalerei. Er hätte ihr vorhalten können, dass
hinter den Masken böse Fratzen gelauert hatten, noch immer lauerten und sich
auch weiterhin dahinter verbergen würden. Er sagte nichts, weil es zu spät war.
Manfred Weinling hatte seinen Hoftrak abgestellt.
Gerhard ging langsam zu ihm hinüber. »Weinling, Manfred, es tut mir leid.«
»Woaß der Toni des scho?«
»Nein, aber ich sage es ihm.«
»Wär besser, wenn r zruckkimmt«, sagte der
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