Nachtprinzessin
aus, das war günstig. Und wenn er sich beeilte, erreichte er die Staatsoper Unter den Linden noch bevor Fidelio zu Ende war.
Allmählich beruhigte er sich. Es war nicht wichtig, dass er das Ende der Oper erwischte, in warmen Sommernächten gab es viele Möglichkeiten. Auf Plätzen, Einkaufsstraßen oder in Bars, die ihre Tische und Stühle auf der Straße stehen hatten. Nicht einen Moment zweifelte er daran, dass er finden würde, was er suchte.
Sein Gang war flott und lässig zugleich. Er genoss das Klappern seiner nagelneuen Schuhe aus Krokoleder auf dem Asphalt. Für ihn war es ein vornehmes Geräusch, und bei dem Gedanken daran musste er lächeln.
Als er die Oper erreichte, war der Vorplatz voller Menschen, Taxis starteten im Sekundentakt. Mit Händen in den Hosentaschen mischte er sich unauffällig unter die Wartenden und unter die, die in Grüppchen herumstanden, diskutierten, sich verabschiedeten oder sich noch einmal die Fotos im Schaukasten der Oper ansahen.
Matthias hatte einen geschulten Blick, die Suche gehörte zu seinem Alltag, und daher sah er sehr schnell, dass niemand dabei war, mit dem er Kontakt aufnehmen konnte. Er überlegte kurz, ob er zum Bühneneingang gehen und warten sollte, bis der Opernchor abgeschminkt war und herauskam, aber dann ließ er es bleiben. Er wollte nicht wie jemand dastehen, der fest verabredet war, um dann am Ende vielleicht noch gefragt zu werden, auf wen er warte.
So schlenderte er langsam weiter in Richtung Gendarmenmarkt.
Um diese Zeit war noch erstaunlich viel Betrieb in der Stadt. Vor ihm ging ein älteres Paar, die Frau mit winzigen weißen Löckchen und ungefähr anderthalb Köpfe kleiner als ihr Mann, der seinen breiten Arm um ihre Schultern gelegt hatte. So als bugsierte er sie vorsichtig durch die Stadt. Die Frau erinnerte ihn an seine Mutter, deren Haare auch von Jahr zu Jahr weißer geworden waren, obwohl sie sie hin und wieder blond tönte. Von hinten sah seine Mutter mit ihrer zarten Figur immer noch aus wie ein junges Mädchen. »Von hinten Lyzeum, von vorne Museum«, hatte sie immer wieder gesagt und dabei gelacht, und obwohl ihm der Satz schon zum Hals heraushing, hatte er es nie gewagt, sie zu bitten, damit aufzuhören.
Egal, was sie tat, er liebte sie.
Keine Ahnung, warum ihm das gerade jetzt einfiel, aber er erinnerte sich plötzlich an eine Situation, als er in die zweite Klasse ging. Es war eine katholische, von Patres geführte Schule. Jeden Morgen stand Pater Dominikus an der Pforte zum Schulhof, begrüßte die Kinder und wechselte auch hin und wieder ein paar Sätze mit Eltern, die ihre Kinder zur Schule brachten.
Pater Dominikus hatte Matthias’ Mutter angerufen und sich darüber beschwert, dass ihr Sohn morgens an der Pforte gar nicht oder nicht höflich genug grüße.
»Matthias«, begann seine Mutter am Nachmittag mit einem scharfen Unterton in der Stimme, »warum sagst du Pater Dominikus nicht Guten Tag?«
»Ich sag ihm Guten Tag!«
»Aber anscheinend nicht anständig.«
»Doch.«
»Er hat sich aber über dich beschwert.«
Matthias schwieg verstockt.
»Offensichtlich ist dir nicht klar, wie man anständig grüßt. Und darum werden wir das jetzt üben!« Henriette setzte sich in den Sessel am Fenster. »Du kommst bitte herein, gehst auf mich zu, sagst laut und deutlich ›Guten Morgen, Pater Dominikus‹ und gehst wieder. Ich will das mal sehen.«
Matthias schämte sich entsetzlich.
»Das mach ich nicht!«
»Sehr wohl machst du das, mein Sohn, und zwar so lange, bis du es kannst.«
Mein Sohn sagte sie nur, wenn sie wütend war und keinen Widerspruch duldete.
Matthias nahm all seinen Mut zusammen, marschierte durchs Zimmer, stieß wütend ›Guten Morgen, Pater Dominikus‹ heraus und verließ das Zimmer.
»Komm mal bitte her!«, rief Henriette laut und entsetzlich hoch.
Matthias kam herein, baute sich vor ihr auf und musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen, so erniedrigend fand er die Situation.
»Das war gar nichts! Kein Wunder, dass sich Pater Dominikus beschwert hat. Also noch mal von vorne: Du kommst herein, bleibst vor mir stehen, sagst: ›Guten Morgen, Pater Dominikus.‹ Und zwar freundlich! Du brauchst den Pater nicht anzublöken, er hat dir nichts getan. Während du ihn grüßt, nimmst du die Hände auf dem Rücken zusammen und machst einen Diener. Ist das klar?«
Matthias reagierte nicht, er wünschte sich ganz weit weg, am liebsten auf den Mond.
»Also dann probieren wir das jetzt noch mal.«
Sie
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