Nachtprinzessin
mit ihm zu sprechen.
Seit dreißig Jahren kümmerte sich Loni darum, was in diesem Hause geschah, und schrieb es sich als Verdienst auf ihre eigenen Fahnen, dass bisher noch nie eingebrochen worden war. Wenn Mieter in Urlaub waren, goss sie die Blumen, fütterte die Katze und leerte eben auch den Briefkasten. Sie führte Hunde spazieren, wenn Herrchen oder Frauchen zehn Stunden zur Arbeit waren, und wartete auf den Kundendienst zum Reparieren der Waschmaschine.
Loni tat alles Notwendige aus reiner Lust und Liebe. Freute sich natürlich, wenn sie dafür hin und wieder eine Schachtel Pralinen bekam oder auf eine Tasse Kaffee eingeladen wurde. Dann fühlte sie sich geliebt, gebraucht und ungeheuer wichtig. Diese Bestätigung konnte ihr ihr Mann Heinz schon lange nicht mehr geben, der den ganzen Tag vor dem Fernseher saß und kaum drei Worte mit ihr wechselte. Loni war sich darüber im Klaren, dass sie erst dann wieder in sein Bewusstsein vordringen würde, wenn sein Mittagessen nicht auf dem Tisch stand, weil sie krank oder tot war.
Sie sah auf die Uhr. Es war jetzt halb elf, eine zivile Zeit, um einen verpennten Studenten aus dem Bett zu werfen, also stieg sie die Treppe hinauf bis zum zweiten Stock, wo Jochen Umlauf wohnte.
Loni klingelte. Zuerst zaghaft, dann stürmischer und anhaltender. Niemand öffnete. Sie legte das Ohr an die Tür, hörte aber nicht das leiseste Geräusch.
Sie wollte sich gerade abwenden und zurück in ihre Wohnung gehen, als ihr ein säuerlich beißender Geruch in die Nase stieg. Zwar nicht stark, aber unangenehm und ekelhaft.
Was war das denn? Hortete der Student etwa Müll in seiner Wohnung? Merkwürdig. Das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen, denn Jochen Umlauf war ihr in der kurzen Zeit, seit sie ihn kannte, als sehr ordentlich und zuverlässig vorgekommen. Ein bisschen kontaktscheu vielleicht, aber das war in den heutigen Zeiten ja eher von Vorteil. Und wenn sie auf etwas stolz war, dann auf ihre Menschenkenntnis. Sie hatte sich in ihrer Einschätzung von einem Menschen nur selten getäuscht.
Loni drückte erneut auf die Klingel. – Nichts.
Sie beschloss, vorerst keine Pferde scheu zu machen, noch nichts zu unternehmen und das Ganze erst mal zu beobachten. Wahrscheinlich war der junge Mann einfach nur ein paar Tage verreist und hatte vergessen, ihr den Schlüssel zu geben, so wie sie es ihm grundsätzlich angeboten hatte. Falls es mal einen Rohrbruch geben sollte und die Feuerwehr die Tür öffnen musste.
Sie ging hinunter ins Parterre in ihre Wohnung, um Eimer und Schrubber zu holen. Das Treppenhaus musste dringend gewischt werden. Es bezahlte sie zwar niemand dafür, aber wenn sie es nicht tat, machte es keiner.
Auch in den folgenden drei Tagen zog Loni mit spitzen Fingern die Post aus Jochens Briefkasten und klingelte an seiner Tür. In der Wohnung rührte sich nichts. Kein Laut. Aber der unangenehme Geruch wurde stärker.
»Ich weiß nicht, Heinz«, sagte sie am Nachmittag zu ihrem Mann und versuchte die Seifenoper mit ihrer Stimme zu übertönen, denn Heinz dachte nicht daran, den Fernseher leiser zu stellen, »aber was diesen neuen Mieter betrifft, weißt du, diesen Studenten aus dem zweiten Stock …«
»Weiß ich nicht und kenn ich nicht. Interessiert mich auch nicht.«
»Heinz, da stimmt was nicht. Er ist wie vom Erdboden verschluckt, und in der Wohnung stinkt’s wie damals bei uns, als wir die beiden toten Mäuse im Schrank unter der Spüle hatten. Erinnerst du dich?«
»Ungern.«
»Aber du erinnerst dich.«
»Ja.«
»Siehst du. Und genauso stinkt’s bei dem durch die Tür. Was soll ich denn machen?«
»Ruf die Polizei und lass mich in Ruhe. Ich hab durch dein Gerede jetzt schon völlig den Faden verloren …«
Bei jedem Problem, das auftauchte, sagte Heinz: »Ruf die Polizei.« Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Ob sich vor dem Haus Kinder prügelten, die Müllabfuhr zu viel Krach machte, sich die Müllers aus dem ersten Stock stritten oder irgendjemand laut Musik hörte – immer sagte er: »Hol doch die Polizei.«
Loni hatte es nie getan, sondern sich immer selbst eingemischt, bis das Problem vom Tisch war, aber diesmal waren ihr die Hände gebunden. Schließlich konnte sie nicht die Tür aufbrechen.
Ein bisschen unwohl war ihr schon dabei, aber nachdem sie noch eine Nacht darüber geschlafen hatte, wählte sie am Sonntagmorgen nach dem Frühstück, als sich Heinz ins Wohnzimmer zurückgezogen hatte und den Fernseher einschaltete, die
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